In Zeiten von Corona rufe ich meine Mutter öfter mal an. Damit sie weiß, daß es mir gut geht und sie ein paar Dinge über meinen Alltag erfährt. Ich merke richtig, wie sie aufblüht und ganz beschwingt durch den Anruf wird. Während ihre gute Laune immer mehr zunimmt, nimmt mein Laune allerdings reziprok dazu ab. Neulich hat sie mich zum Beispiel gefragt, ob ich einen Schlafanzug habe. Es gibt Fragen, die man ab einem gewissen Alter seiner Mutter nicht mehr beantworten möchte. Hast Du Dir die Zähne geputzt? Bist du heute schon Kacka gewesen? Doch meine Mutter ist eine geübte Ermittlerin in schweren Bekleidungsdelikten, und ich mußte ihr gestehen, selbst wenn es nun Bilder im Kopf erzeugt, die ich niemandem wünsche: Nein, ich besitze keinen Schlafanzug, ich bin Nacktschläfer.
Mutter befürchtete diesen Umstand natürlich längst: „Aber du brauchst doch einen Schlafanzug, spätestens wenn du mal ins Krankenhaus mußt“, gab sie mir zu bedenken. Wie soll ich mir das vorstellen? Ich werde ins Krankenhaus eingeliefert. Der behandelnde Arzt fragt:
„Haben Sie Ihren Schlafanzug dabei?“
„Nicht!, dann können wir leider nichts mehr für sie tun.“
Todesursache, kein Schlafanzug.
Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Denn es gibt zwei Sorten von Männern. Männer mit Selbstachtung und Männer mit Schlafanzug. Während meiner Doktorandenzeit war ein Kollege bei uns im Gästezimmer über Nacht zu Besuch. Er hatte mit Bravour seine Doktorarbeit bestanden. Als er zum Zähneputzen ins Bad ging, bin ich ihm noch einmal im Flur begegnet. Er trug einen fleischfarbenen Ganzkörperfrotteeschlafanzug, der die Arme und Beine komplett bedeckte. Nur die Füße, Hände und der Kopf lugten aus dieser Leibesumstoffelung hervor. Er sah aus wie ein promovierter Teletubby. Ein Grund, warum ich meine Doktorarbeit hingeschmissen habe, könnte dieser Anblick gewesen sein. So will man doch als Akademiker nicht enden.
„Wenn Du es nicht selber tun möchtest“, so meine Mutter am Telefon weiter, „kann ich Dir auch einen Schlafanzug kaufen?“ Natürlich, warum nicht. Das ist genau das, was ich mir schon immer gewünscht habe. Am besten einen mit einer riesigen Mickymaus vorne drauf, um die Unselbstständigkeit und geistige Zurückgebliebenheit seines Trägers angemessen zu betonen.
„Wir haben unsere Notfalltaschen jedenfalls immer gepackt“, verkündete Mutter. Im Hintergrund hörte ich meinen Vater zustimmend rumoren. Wenn sie sich auch sonst nicht mehr so gut leiden können, immerhin rechnen beide ständig mit dem Schlimmsten und teilen jedem gerne mit, daß es ihn ebenfalls ganz schlimm treffen kann. Die Inspiration dafür holen sie sich jede Woche bei Visite, einer Sendung im NDR, die über alle erdenklichen Gesundheitsprobleme ausführlich informiert. Von der Hämorride bis zum Herzinfarkt. Höhepunkt ist ein von Schauspielern in Szene gesetzter Beitrag namens „Abenteuer Diagnose“. Wer Horrorfilme mag, sollte sich das unbedingt anschauen.
„Gerade Du solltest eine Notfalltasche besitzen. In Deinem Alter gehörst Du nämlich auch schon zur Risikogruppe“, zerstörte Mutter den letzten Rest meines jugendlichen Lebensgefühls, das ich mir als 43jähriger noch geleistet habe. Wenn ich jetzt ein Funkloch simulierte, könnte ich unser Gespräch noch einigermaßen sozial verträglich abbrechen.
„Ich möchte dich wirklich nicht beunruhigen“, fährt Mutter fort, „aber in unserer Familie gibt es, wie du ja weißt, ein siebenmal erhöhtes Risiko einer Blutgerinnungsstörung, das kann jederzeit Thrombosen und sogar einen Schlaganfall auslösen. Hallo, Christian, Hallo, bist Du noch dran…“
„…, Ja Mutter, ich versuche gerade nur überhaupt nicht beunruhigt zu sein. Es klappt übrigens ausgezeichnet.“
„Also Christian, du bist doch kein kleines Kind mehr, da wird man doch mal über solche Sachen offen sprechen dürfen.“
Wie man sieht, ist meine Mutter eine Meisterin der emotional widersprüchlichen Kommunikation. Zu meinem Vierzigsten überreichte sie mir einen Strauß Freesien, meine Lieblingsblumen, ein Umschlag mit Geld, damit ich mir als Autor auch mal was Schönes kaufen kann, und eine Patientenverfügung, falls ich demnächst ins Koma falle. Manchmal erinnert sie mich an den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Der meint es doch auch nur gut mit uns. Als ich wieder bei Markus Lanz reinzappte, sagte er, bevor ich schnell wegschalten konnte: „Viele wissen gar nicht, daß nach einer schweren Coronaerkrankung der IQ um acht Punkte sinkt.“ Wußte ich bislang auch noch nicht. Wie interessant! Selbst der kreativste Hypochonder hätte sich eine solche Symptomvielfalt nicht selber ausdenken können. Am lustigsten fand ich übrigens, daß Corona auch eine schmerzhafte Dauererektion auslösen kann. Das ist jedenfalls lustiger als Schlaganfall oder Herzinfarkt. Zumindest für den, der sie nicht hat.
Für mein nächstes Telefonat mit Mutter nahm ich mir fest vor, ganz leicht zu nuscheln, aber nur so ein bißchen. Auf Mutters Nachfrage, was los sei, würde ich antworten, „Gar nischts, allesch okay. Scheit heute Morgen hängt blosch meine linke Geschichtshälfte scho scheltsam herunter.“ Damit wäre das Gleichgewicht des Erschreckens kurz wiederhergestellt.