Einmal im Jahr bekomme ich eine Einladung zum Tag der Soziologie vom sogenannten Alumniverein. Alumni hat nichts mit dem Weißkäse im Döner zu tun, sondern ist die lateinische Bezeichnung für Absolventen. Die Einladung verspricht ein abwechslungsreiches Programm. Es würden Vorträge gehalten, die besten Arbeiten des Jahrganges prämiert, und nicht nur das, im Anschluß lade man mich zu einem „Get-together“. Aus kaum nachvollziehbaren Gründen verpasse ich dann trotzdem immer wieder dieses spannende Event. Beim „Get-together“ sollen nämlich altgediente Alumni den frischen Absolventen erzählen, wie man als Soziologe erfolgreich in der Berufswelt ankommt. Was meinten die mit erfolgreich? Ich hätte ihnen einen Vortrag darüber halten können, wie man ohne Probleme einen Hartz4-Antrag ausfüllt oder was man im Callcenter tun muß, um spätestens nach einer Woche gekündigt zu werden. Man studiert Soziologie doch nicht, um in der Berufswelt anzukommen, sondern um der Berufswelt erfolgreich fernzubleiben. Das ist ja das Schöne daran. Soziologie ist eine Einstellung, keine Anstellung. Das Fach besitzt außerdem eine große Offenheit gegenüber Menschen mit einem Abi-Durchschnitt von über 3,0. Im Grunde kann jeder Soziologie studieren, der nicht unbedingt eine schwere geistige Behinderung hat. Daß Soziologen Taxifahrer werden ist allerdings ein altes Klischee und traf höchstens noch in den 70er Jahren zu, als man mit einem Soziologiestudium noch Aufstiegschancen hatte.
Ein weiterer Grund, warum ich gern Soziologie studierte, war ja auch, daß man einfache Dinge immer etwas leicht kompliziert auf den Punkt bringen konnte. So sagte neulich auf Zeit-Online zum Thema Corona eine Soziologie-Professorin: „Das Bordell praktiziert ähnlich wie der Club eine bestimmte Körperpraxis, die die Verbreitung des Virus extrem begünstigt.“ Darauf muß man erst mal kommen. Während meines zeitraubenden Soziologiestudiums habe ich auch ab und zu in einem Disko-Club Interesse an einer bestimmten Körperpraxis signalisiert. Allerdings blieb es oft, genaugenommen eigentlich immer, bei der Theorie. Nicht umsonst hat sich auch Jürgen Habermas dezidiert mit dem Problem der Vermittlung von Theorie und Praxis beschäftigt.
Als Clint Eastwood unlängst neunzig wurde, gab es unter anderem einen Artikel, der ihn als Soziologen der amerikanischen Verhältnisse bezeichnete. Den Soziologen Clint Eastwood könnte ich mir am Tag der Soziologie gut als Gastredner vorstellen. Allerdings gibt es in "Dirty Harry Teil 1" diese eine Stelle, da sagt Clint Eastwood, alias Dirty Harry, zu einem jungen Polizei-Kollegen, der neben seinem Dienst noch ein Feierabendsoziologiestudium absolvierte: "Denken Sie nicht zu sehr an die Soziologie, das könnte Sie umbringen." Und tatsächlich, zwei, drei Szenen später war der junge Kollege tot. Soziologie bereitet offenbar nicht sonderlich gut darauf vor, jederzeit und überall seine Knarre ziehen zu können. Muß man sich aber Soziologen immer nur als Luschen vorstellen? Als Soziologe fühle ich mich jedenfalls, wenn es um die Darstellung von Killern und brutalen Polizisten in Filmen geht, ziemlich unterrepräsentiert. Ich fordere eine stärkere Sichtbarkeit. Wann dürfen wir Soziologen endlich mal einen Actionfilm sehen, dessen Protagonist ein sehr muskulöser und auch sehr gut schießender Soziologe ist. Die Rolle darf natürlich nur von einem echten Sozialwissenschaftler verkörpert werden. Alles andere wäre unsensibel. Titel des Films: „Studier langsam“. Plot: Ein angehender Soziologe, gerade mal im fünfzigsten Semester bekommt von seinem Vater einfach so den Geldhahn abgedreht, völlig verzweifelt legt er sich mit einer Horde BWL-Studenten an, die er, trotz seines fortgeschrittenen Alters, dann einen nach dem anderen fertigmacht. Würde ich mir anschauen.
Ich weiß noch, als ich meinem Vater mitteilte, ich wolle nun mein erstes, unbedacht begonnen habendes Studium der Immobilienwirtschaft abbrechen und kein Millionär werden, sondern lieber Soziologe. Wie für ihn eine Welt zusammenbrach! Er hatte gehofft mit dem Renteneintritt schuldenfrei zu sein, das konnte er sich nun abschminken. Sein Traum, den er sich von meinem Leben gemacht hatte, durchlief die 5 Sterbephasen nach Kübler-Roß. Erst reagierte er mit Nicht-wahrhaben-Wollen. Dann mit Zorn, Verhandlung, Verzweiflung. Die letzte Phase ist Annehmen. Das habe ich dann auch meinem Vater empfohlen. Nimm es einfach an. Dann tut es auch nicht mehr so weh, sobald du darüber nachdenkst, wieviel mein Studium dich gekostet hat. Und das meinem Vater diese Lebensweisheit schließlich gelungen ist, macht mich dankbar und froh. Einige mögen einwenden, ich hätte, anstatt das Studentenleben zu genießen, mir lieber einen Nebenjob suchen sollen, um im Schweiße meines Angesichts alles selbst zu finanzieren. Aber extra arbeiten zu gehen für ein Studium, das ich studierte, um später einmal nicht arbeiten zu gehen. Das konnte man nun wirklich nicht von mir verlangen.