Im August waren meine katholische Freundin und ich in der Schweiz. Eigentlich wäre ich aufgrund von Corona lieber nicht hingefahren. Als Hypochonder zähle ich zu der besonders gefährdeten Risikogruppe. Hustet jemand, reicht schon die Einbildung, um mich mit Corona anzustecken. Im ICE hinter Frankfurt bat ich dann zwei junge Männer, die ihren Mund-Nasen-Schutz nicht trugen, ihn gefälligst verdammt nochmal aufzusetzen. Vielleicht hätte ich es freundlicher ausdrücken sollen, ihre Reaktion verblüffte mich jedenfalls. Als Autor von humorvollen Texten glaubte ich, eine gewisse Ahnung davon zu besitzen, was halbwegs lustig ist oder nicht. Das ausgerechnet dieser vollkommen pointenfreie Aufforderungssatz von mir für eine riesige Erheiterung sorgte, umso mehr, als ich nun vom Sitz hochschnellte und rief, jetzt reichts, zum Schaffner ging, der gerade im Abteil weiter vorne stand, um mich bei ihm zu beschweren, und als er sich rumdrehte, hatten die beiden natürlich schon ihre Halstücher schnell hochgezogen. Man sagt ja, daß man erst an den Augen erkennt, ob jemand auch von Herzen lächelt und sich wirklich amüsiert. Das kann ich bestätigen. Als ich wieder auf meinem Platz saß, nahm ich etwas wahr, das sich anhörte wie „Geh doch zu Mutti“, und Gekicher. Ich fühlte mich wie auf dem Schulhof 1985. Aber ich sagte mir ganz souverän als ein Mensch, der sich doch nicht provozieren läßt: Der Klügere gibt nach. Danach ärgerte ich mich maßlos. Denn es war schon immer ein Satz des pädagogischen Kinderbetrugs. Nach! Nach gibt immer der Schwächere. Doch hätte ich mit diesen Knallköpfen einen Händel begonnen, hätten sie mich nur noch mehr mit ihren Mündern zugeschwallt. Vermutlich bin ich ein bißchen uncool, die jungen Leute mögen das lockerer sehen, aber es paßt mir gerade leider überhaupt nicht zu sterben.
In Basel stiegen wir zum Glück um. Der Schweizer ist für mich der korrekteste Mensch auf der Welt. Allerdings nur bis kurz hinter Zürich, da mußte ich etwas ganz Schreckliches erblicken. Eine Schweizerin, die im Zug ohne Mundschutz telefonierte. Obwohl es doch erwiesen ist - ein Artikel in der NZZ hat das ausführlich auseinandergesetzt -, daß der Schweizer Dialekt, mit seiner gutturalen Lautbildung, ganz besonders viele Aerosole verbreitet. Eigentlich dürften Schweizer in der Öffentlichkeit gar nicht mehr reden. Was an sich auch nicht schlimm wäre, weil man eh nichts versteht.
Dieses positive Vorurteil war nun ausgeräumt. Ein negatives bestätigte sich dafür. Ein Glas Bier kostete 6 Franken. Ein Glas Wein, sogar acht. Wie soll man sich da betrinken? Da droht uns doch nach dem Urlaub die Privatinsolvenz. In meinen Rollkoffer hatte ich deshalb zehn Liter Wein eingesteckt, in zwei Weinschläuchen original abgefüllt von Jacques Weindepot. Für Kleidungsstücke war nicht mehr so viel Platz im Koffer. Aber ich bin im Urlaub lieber nackt als nüchtern. Eine Hose und zwei Schlüpfer reichen außerdem für zehn Tage. Mehr geht sowieso an der männlichen Bekleidungsrealität vorbei.
Wir rauschten durch den Gotthart-Tunnel ins Tessin. Das ist fast schon Italien, nur ohne die italienischen Nachteile. Aus dem Wasserhahn kommt Trinkwasser, die Post dauert nicht wie zu Zeiten Marco Polos, und wenn du aus Sachsen-Anhalt kommst, steckt man dir eher noch Geld zu, als das man dir die Brieftasche klaut. Ein Italien für Sicherheitsfanatiker und Abenteuerscheue. Kein Wunder, daß es mir dort so gut gefiel. Eigentlich wäre jedem Land nördlich der Alpen ein bißchen Italien zu gönnen. Völkerrechtlich läßt sich das inzwischen nicht mehr so leicht umsetzen. Aber man stelle sich vor, es gäbe nicht nur die italienische Schweiz, sondern auch ein italienisches Finnland, voller fröhlicher Finnen, die nicht ständig in ihrer Sauna sitzen und wegen Winterdepression am Alkohol zu Grunde gehen.
Unser Urlaubsörtchen Costa im Centovalli lag 600 Meter hoch, nur noch wenige Kilometer von der italienischen Grenze entfernt, und war mit einer Seilbahn zu erreichen. Außerhalb der regulären Betriebszeiten konnten wir mit einem Chip die Seilbahn sogar selber bedienen. Meine erste Seilbahnerfahrung war in Thale, hinauf auf den Hexentanzplatz. Höhenängstlich schaute ich damals hinab in den Abgrund des Bodetals und klammerte mich an meine Mutter. Inzwischen bin ich erwachsen geworden und muß mich nicht mehr an meine Mutter klammern. Dazu habe ich jetzt meine Freundin.
Die Gondeln von Intragna hinauf nach Costa sind für vier Personen mit einem Maximalgewicht von 400 Kilo ausgelegt. Also nicht pro Person, sondern insgesamt. Und wenn dann noch Gepäck dazu kommt. Es gibt ja Leute, die mit riesigen Rollkoffern erscheinen, in denen sie mehrere Liter Wein verstaut haben. Ich frage mich allerdings, wie man das Gewicht feststellen soll. Im Eingangsbereich der sogenannten Luftseilbahn gab es keine Wage. Wir waren nicht die einzigen, die nun nach oben wollten. Die anderen waren aber alle dünner als wir. Überwiegend Frauen mittleren Alters. Leicht angegraut, mit ein paar Falten, aber sportlich und gesund sahen sie aus. Jedenfalls keine Alkoholikervisagen, die es nötig hätten, 10 Liter Wein mit in den Urlaub zu schleppen. Wegen des ganzen Gepäcks stieg nur eine weitere Person zu uns in diese winzige Kabine. Sie fing aber gleich an uns auszufragen. Wo wir wohnen, was wir machen. Schon bereute ich meine unkontrollierte Eitelkeit, die mich nun mitteilen ließ, daß wir Schriftsteller sind. Denn daraufhin erfuhren wir, daß sie auch Künstlerin ist. Was genau, habe ich mir nicht merken können. Es war etwas Interdisziplinäres, Mediales, Kommunikatives und Performatives. Sie bezeichnete sie sich als Pionierin der angewandten Soziologie. Aha. Sagte ich. Ich war ja auch mal Pionier, allerdings des angewandten Sozialismus. Aja. Sagte sie. Auf halber Seilbahnhöhe stieg sie dann aus in dem kleinen Örtchen Pila. Da hatten wir nochmal Glück gehabt. Oben in Costa wartete auf uns ein dreihundert Jahre altes Steinhaus, mit dicken Mauern und viel Ruhe. Die soziale Distanz würde dort problemlos einzuhalten sein. Und soziale Distanz, so merkten wir doch nun wieder, war für uns gleichbedeutend mit einem sehr erholsamen Urlaub.