Das erste Mal soll das Enkelkindchen von seinen Großeltern aus dem Kindergarten abgeholt werden. Für diese Aufgabe fuhren wir mit dem Zug nach Leipzig, wo sich Kindergarten und Enkelkind befinden, und waren sehr aufgeregt.
„Hast du deinen Personalausweis dabei?“, fragte ich nun leicht panisch die abholberechtigte Oma, die in Personalunion auch weiterhin meine katholische Freundin ist. Als Abholperson muß man nämlich seinen Personalausweis vorzeigen. Sonst könnte jeder einfach einen Kindernamen nennen, den er vorher an der Garderobe des Kindergartens abgelesen hat und sich mit einem fremden Enkelkind davon machen. Enkelkindsüchtige sollen so was schon probiert haben. „Klar, hab ich den“, hörte ich sie brummen. Trotzdem besser, daß ich nachgefragt habe. Das hatte in diesem Moment zwar überhaupt keinen Sinn mehr, weil wir ja bereits im Zug saßen, aber falls meine Freundin ihren Personalausweis tatsächlich vergessen hätte, könnte ich ihr die ganze Zugfahrt über wenigstens Vorhaltungen machen.
Warum sich meine Freundin noch nicht von mir getrennt hat? Neben dem Umstand, den ich mal als das große Geheimnis der Liebe bezeichnen möchte, ist es mein ausgezeichneter Orientierungssinn, den sie zu schätzen weiß. Vielleicht habe ich auch nur einen ganz normalen Orientierungssinn. Meine Freundin hat jedoch einen ganz unnormalen. Man könnte auch sagen, sie hat gar keinen Orientierungssinn, das trifft es eigentlich am genauesten. Müßte sie eines Tages mal ohne mich das Enkelkind zum Kindergarten bringen, der sich praktischerweise nur wenige Laufminuten von der elterlichen Wohnung entfernt befindet, sähe das Ordnungsamt erst nach Wochen einen verwilderten Menschen mit einem in Waschbärfellen eingemummelten Kind irgendwo in den Außenbezirken Leipzigs herumirren. Das Kind wäre aber wohlauf, Leipzig um ein paar Waschbären ärmer, und das ist ja die Hauptsache.
Kindergärten haben oft recht putzige Namen: „Wilde Bienen“ zum Beispiel oder „Die frechen Stadtmäuschen“, „Der lustige Kater“, und auf Hiddensee heißt der Kindergarten sehr passend „Inselkrabben“. Ich kann mich nicht erinnern, daß die Kindergärten, in denen ich zu Ostzeiten kaserniert worden war, solche frohen und netten Namen trugen. Das hätte auch gar nicht gepaßt. Wenn man das Erziehungsprogramm von Margot Honecker betrachtet, wäre ein guter Name für meinen damaligen Kindergarten „Die tapferen Friedenskampfbienen“ oder „Der wachsame Panzerkater“ gewesen. Meiner hieß einfach: „Kindergarten Roschwitzerstraße“. Dort residierten Frau Milling und Frau Jaksch. Personen, denen man gewünscht hätte, daß sie eine Geschlechtsangleichung zum NVA-Feldwebel hätten machen dürfen, damit wir von ihnen verschont geblieben wären.
Zum Glück hat unser Enkelkindchen eine freundliche Bezugsperson. Es gab eine Eingewöhnungszeit. Das bedeutet, daß die Mutter zu Anfang im Kindergarten anwesend ist. In der DDR sollten die Mütter nach der Ablieferung des Kindes am besten sofort verschwinden, damit sie die Kindergärtnerinnen nicht stören beim Quälen der Kleinen. Meine Mutter war damals selbst Kindergärtnerin gewesen und als solche eine komplette Fehlbesetzung. Sie war lieb zu Kindern. Ich kann das bezeugen, weil ich zuerst in ihrer Gruppe war, bis ich meine Privilegien ausgenutzt habe und dann strafversetzt worden bin in die Gruppe der oben namentlich genannten Dragonerinnen.
Dank meiner Orientierungskunst erreichten wir nun die Kita und waren am Eingangstor konfrontiert mit einer Kindersicherung. Mir kam es eher vor wie ein Geschicklichkeitstest für Eltern. Wer zu doof ist, das zu öffnen, soll sein Kind lieber in den Waldorfkindergarten bringen.
Als wir endlich drin waren, gab es das nächste Problem. Welcher von den Kinderwägen, die von den Eltern am Morgen hier abgestellt worden sind, gehört zu unserem Enkelkind. Inzwischen haben fast alle hippen Leipziger Eltern diese eine Sorte Supermultifunktionskinderwagen, die zum Schieben wie auch als Fahrradanhänger gleichermaßen taugt. Auf dem Kinderwagenparkplatz suchten wir alle Fahrzeuge nach einem Indiz unseres Enkelkindes ab. Plüschtier oder so. „Was machen Sie da?“ Die Frau, die uns eben noch freundlicherweise beim Öffnen der Kindersicherung am Tor geholfen hatte, schaute uns streng an.
„Ähm, wir suchen nur den richtigen Kinderwagen.“
„So, so. Das wissen sie wohl nicht?“
„Nein, doch, der hier, der ist es“.
Ich zeigte auf einen x-beliebigen Kinderwagen. „Und jetzt holen wir unser Enkelkind“, sagte ich demonstrativ großväterlich. „Hol schon mal Deinen Personalausweis raus“, zischelte ich, als wir das Gebäude betraten. Und dann war auch schon ein Gewusel ringsumher. Wo ist denn unseres? Ach da. Ich schmelze vor Rührung, gehe auf es zu, und als es mich sieht, fängt es an zu weinen. Na super. Meine Freundin wird von der Erzieherin nach dem Namen des abzuholenden Kindes gefragt und sagt den falschen, nämlich den ihrer Tochter. Das kann vor Aufregung mal passieren. Doch wenn wir so weiter machen, bekommen wir bestimmt nicht unser Enkelkind ausgehändigt, sondern müssen die Fragen der Polizei beantworten. Die Erzieherin schaut sich sehr intensiv den vorgehaltenen Personalausweis meiner Freundin an. Bange Sekunden vergehen, bis feststellt wird, daß wir, obwohl alles dagegenspricht, tatsächlich abholberechtigt sind. Inzwischen guck!, hat der Opa in dem kleinen Kinderrucksack die Dose mit den Maisplätzchen entdeckt. „Möchtest Du einen?“ Die Frage ist rein rhetorisch, das Kind greift nach dem Plätzchen und die Tränen versiegen. Oma zieht Schuhchen und Jacke an. Draußen finden wir schließlich den richtigen Kinderwagen. Das Kind brabbelt freudig, während der Opa präzise wie ein Pfadfinder durch die Rocky Mountains den Kinderwagen zwei Straßen weiter und einmal um die Ecke nach Hause schiebt. Als Großelternteam sind wir eben doch unschlagbar.