Am Abend des 31. Oktober klingelt es wieder an unserer Tür. Während ich im verdunkelten Flur stehe und keinen Mucks von mir gebe, höre ich eine weiblich klingende Erwachsenenstimme, die zu den herumlärmenden Kindern sagt: "Manche Menschen mögen dieses Spiel nicht."
Wie kommt diese Frau auf die Idee, daß ich Halloween nicht leiden mag? Weil ich die Tür nicht öffne? Das ist doch eine haltlose Unterstellung. Vielleicht bin ich nur mal kurz rüber in den Penny, um für die nervigen Kinder, die gleich an unserer Tür klingeln würden, genügend Süßigkeiten einzukaufen. Aber nein, da macht man einmal die Tür nicht auf, schon wird man von dieser Elternperson, die ihre Kinder krass überbehütet und sie nicht einmal allein losziehen läßt, um sich Süßigkeiten zu erbetteln, denunziert als Spielverderber. Und steht plötzlich da als verkniffener Typ, namentlich als der verkniffene Herr Kreis - falls die kleinen Quälgeister schon das Klingelschild zu lesen in der Lage sind - der womöglich still in seiner Wohnung hockt, überall das Licht penibel ausschaltet und die Vorhänge schön zuzieht, nur um seine Süßigkeiten für sich zu behalten. Ich frage mich echt, was diese Halloweenaktivistin für ein mieses Menschenbild hat. Wer verhält sich denn tatsächlich so? Ich kenne niemanden, dem ich so etwas unterstellen würde. Höchstens diesem Typen im Haus gegenüber, der immer im Schlüpfer durch die Bude rennt. Ein Anblick übrigens, den ich neulich erst wieder ertragen mußte, als ich in seine Wohnung mit meinem Feldstecher schaute.
Selbst angenommen man hätte keine Lust auf diesen Halloweenquatsch, wie unsouverän müßte man überdies drauf sein, nicht locker bei angeschaltetem Licht an seinem Schreibtisch zu sitzen und das Klingeln an der Tür entspannt zu ignorieren. Man ist doch nicht verpflichtet, fremden Kindern ungesundes Zeug zu geben! Am liebsten würde ich jetzt die Tür aufreißen und diese Mutterperson darüber belehren, daß man Kindern nicht solche Vorurteile über seine Mitmenschen in den Kopf setzten sollte. Sie kann bloß froh sein, daß ich gerade nichts weiter anhabe, während sie im Treppenhaus Falschinformationen über mich verbreitet, sonst hätte ich ihr das sogar doch noch ins Gesicht gesagt. Aber ich will nicht wissen, was sie mir dann unterstellt hätte.
Kurz darauf klingelt es wieder. Den Stimmen nach zu urteilen offenbar ein Vater mit seinem Sohn, die an unserem verdunkelten Flur Halt machen, auf ihrer Klingeltour durch das Treppenhaus. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß in unserer Wohnungstür eine Milchglasscheibe eingesetzt ist, wie das bei Wohnhäusern aus den 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts häufiger vorkommt, so daß man es sehen würde, wenn das Licht brennt oder jemand, wie ich gerade, hinter der Tür steht, als Silhouette mit einer Axt in der Hand. Nur zum Spaß natürlich. Ich mag ja Halloween. Auch wenn mir Leute ständig etwas anderes unterstellen. Wir haben sogar Süßigkeiten im Flur bereitliegen. Übriggebliebene Spekulatius, eingetrocknete Mon Cherry, granatenharte Krokantkugeln. Man kauft von diesem Krempel ja immer viel zu viel. Halloween ist genau der richtige Anlaß, um die Süßigkeitenaltlasten der letzten Jahrzehnte auf einen Schlag loszuwerden.
Doch ich bin ganz positiv überrascht. Nachdem der Junge sehr vergeblich auf unsere Klingel gedrückt hat, erklärt der Vater seinem Kind: „Überall, wo das Licht an ist, sind die Leute zu Hause, und wo das Licht aus ist, sind sie nicht zu Hause.“ Ein vorbildlicher Umgang mit Kindern in diesem Alter. Sie werden schon früh genug mitbekommen, daß die Umstände hin und wieder anders gelagert sein könnten, als es diese Erklärung nahelegt. Spätestens wenn der Junge sich irgendwann einmal auf Wohnungseinbrüche spezialisiert, sollte er wissen, daß die alte Weisheit seines Vaters nicht immer der Wahrheit entspricht. Doch bis dahin ist noch etwas Zeit. Gönnen wir den Kindern eine Welt, in der es noch so einfach zugehen darf: Wenn das Licht an ist, bin ich da, und wenn es aus ist, bin ich nicht da.
„Was machst du denn da?“, fragt nun meine katholische Freundin, als sie – nachdem sie das Flurlicht eingeschaltet hat – mich nur mit einem Schlüpfer bekleidet und einer Axt in der Hand an der Tür stehen sieht.
„Ich bin doch überhaupt nicht zu Hause“, flüstere ich mit der Axt fuchtelnd so laut in ihre Richtung, daß es vermutlich auch die beiden vor der Tür gehört haben, die sich daraufhin mit sehr schnellen Schritten aus unserem Wohnhaus entfernen.