Lesebühne Kreis mit Berg

Rolling Rad

Bei einem Ferienaufenthalt in Salzwedel faßte ich den Plan, das Rolling Stones Museum in Lüchow zu besuchen. „Bestimmt gibt es in Lüchow noch richtig schönes Fachwerk“, versuchte ich meine katholische Freundin zu locken, die die Aussicht, das Stones-Fan-Museum-Lüchow – wie es offiziell heißt – mit mir besuchen zu müssen, nicht mit der nötigen Begeisterung aufnahm. Aber wer hat eigentlich behauptet, daß man im Urlaub nur Dinge tun soll, die einem gefallen? Geht es nicht auch darum, die ausgetretenen Pfade des Alltags zu verlassen, um in Welten vorzustoßen, die vernünftige Menschen normalerweise meiden würden? Nur so läßt sich doch, wie ich finde, ein Tourismus in Sachsen oder Thüringen überhaupt noch begründen.
Hier profitiert die obere Altmark um Salzwedel wiederum sehr von der Nähe zum Wendland. Salzwedel verfügt über einen wendländischen Biosupermarkt. Auf angenehme Weise wird die Altmark vom Westen mit veganer Biozisch-Limo und schrumpelgesundem Wendlandobst kolonialisiert. Und man kann immer noch schnell in den Westen rübermachen, falls einem die Wahlergebnisse langsam unheimlich vorkommen. Ein NVA-Plattenweg führt von Salzwedel bis an die ehemalige Grenze heran. Drüben gelingt die weitere Flucht auf gut asphaltierten Radwegen. Im Landkreis Lüchow-Dannenberg bekunden die Menschen ihren linksalternativen Widerstandsgeist noch allerorten durch Transparente an den renovierten Bauernhäusern: „Atommüll, nein Danke“. Umweltschutz ist hier identitätstiftend.
Als ich mich im Jahr 2023 drei Monate im Künstler- und Stipendiatenhaus von Salzwedel aufgehalten hatte, war ich einmal in der Abendlichtstimmung auf jenem NVA-Rumpelweg hinübergefahren und genoß dann die hodenschonenden Kilometer drüben, um schließlich wieder nach hüben, in den Osten heimzukehren, aus dem ich entwichen war, und fragte eine Wendländerin, die sich gerade mit den Stockrosen vor ihrem Haus beschäftigte, ob es in dieser Richtung wieder nach Sachsen-Anhalt gehe. Sie schaute mich an, und - wie mir schien - mit Sorge und sagte: „Davon rate ich ihnen aber ab.“ Als Bewohner dieses Bundeslandes konnte ich das natürlich nachvollziehen. Doch sie präzisierte das Problem: „Auf dem Weg hinter der Grenze machen sie sich ihr Rad kaputt.“ So wehren bis heute die NVA-Plattenwege die meisten Wessis ab, und man könnte meinen, das ist etlichen Ossis auch ziemlich recht. Jedenfalls scheint bisher niemand von ihnen auf die absurde Idee gekommen zu sein, einen Antrag zur Verbesserung der Fahrradwege bei irgendeinem europäischen Infrastrukturfond zu stellen.
Es war ein blauer Himmel und über dreißig Grad angesagt, so daß wir für die Radtour nach Lüchow uns vornahmen, recht früh – für unsere Verhältnisse gegen 10 Uhr – aufzubrechen (es wurde dann 11), um noch ein bißchen in der Morgenkühle auf dem beschwerlichen ersten Teilstück, dem „NVA-Gedächtnisweg Willi Stoß“, bis zur ehemaligen Grenze zu gelangen. Vor dem Übertritt in den freien Westen machten wir Picknick. Hart gekochte Eier, rustikal geschmierte Brote mit Wurst der Salzwedeler Fleischerei Kuhlmann, Baumkuchen, aber auch Biozisch haben wir dabei. Denn nach zwei Leberwurststullen und einem Ei brauch ich immer etwas Veganes. Von hier sind es noch 14 Kilometer bis Lüchow. Kein Mensch, nirgends. Immerhin zwei Herdenschutzhunden waren wir begegnet, die hinter dem Elektrozaun eher aus Pflichtbewußtsein als aus der Befürchtung, wir würden ihre Schafe verspeisen, fröhlich schwanzwedelnd ein paar Beller in unsere Richtung abgaben. Wir radeln gesättigt hinüber und weiter auf der von Obstbäumen und Gesträuch gesäumten Asphaltstrecke nach Büttlingen, dem ersten westdeutschen Ort hinter der Grenze. Bauernfachwerkhäuser wechseln sich mit Klinkerbauten der siebziger ab. Am Straßenrand, mit einer Zeltplane überdacht, findet sich eine Ansammlung aus längst gelesenen Büchern von Böll, abgetragenen Herrensakkos, angeschlagener Keramik und ausgekindertem Spielzeug. Ein Schild bietet uns folgenden Begriff dafür an: Selbstbedienungsflohmarkt. Aber wenn man keinen genauen Blick darauf wirft, hätten wir fast die vier liebreizenden Kristallgläschen übersehen, die dafür erkoren sind, nun in unseren Besitz überzugehen für unser klassisches Autorenhobby, das Trinken von harten Getränken, Whisky und Gin. Die Kasse ist allerdings eine nicht ganz des vollständigen Vertrauens. Jemand hat sie angeschraubt und mit einem Schloß verriegelt. Nur durch einen Schlitz kann man seine dem eigenen Gewissen unterworfene Zahlungsbereitschaft nachkommen. Aus purem Sicherheitsinteresse habe ich es probiert, aber Geld zu klauen geht leider wirklich nicht. Ein großes Transparent dahinter zeigt an, wofür die Einnahmen gesammelt werden: Refugees are Welcome. Nun könnte man natürlich säuerlich anmerken, daß am Arsch des Westens, im Zonenrandgebiet des Nirgendwo, kaum mit Refugees zu rechnen sind. Doch über Nacht ist zum Beispiel Lüchow 2015 zu einer Stadt mit einem Flüchtlingsanteil von mehr als 10 Prozent geworden. Szenen wie im sächsischen Freiberg spielten sich nicht ab. Beherzt haben diese Besserwessis die Menschen in ihre Gemeinden integriert. Warum eigentlich? Muß ich nochmal nachlesen, wie die das hier einfach so hinkriegen, keine Flüchtlingsunterkünfte anzuzünden.
Hab ich schon erzählt, daß meine Mutter ein echter Stones Fan gewesen ist? Stones oder Beatles. Das war doch die musikalische Frage der sechziger. Mein Vater bevorzugte die Beatles, weil die so Schnulzen hatten wie „Michele, ma belle“, bei denen man schön eng tanzen konnte. Mein Vater hatte bei meiner Mutter offenbar auch nur das eine im Sinn. Meine Mutter mochte mehr so das Rockige, das die Stones draufhatten. Wahrscheinlich, um wieder etwas Abstand zwischen sich und meinem Vater hinzukriegen.
Nachdem wir nun von Büttlingen weiter nach Wustrow geradelt und dann ab Wustrow auf einer Fahrradstraße – so breit wie für Autos, aber nicht für Autos – an unserem Ziel eingetroffen sind, prangt zur Begrüßung ein Schild am Ortseingang von Lüchow, auf dem das Wahrzeichen der Stadt, ein Mittelalterlicher Burgturm gemalt zu sehen ist, mit einer E-Gitarre in seinen Turmhänden und einem flotten roten Rockerbändchen um seinen Turmkopf herum, als sei er kein Burgturm, sondern Keith Richards himself, damit es jeder wisse: wir sind in der Stadt des Stones-Museums.
An dieser Stelle bricht nun eine kleine Beziehungskrise zwischen meiner katholischen Freundin und mir aus, weil sie sich von mir trennen will. Und zwar bis 15:30 Uhr. Sie hat Null Bock auf das Stones Museum und gibt mir zu verstehen, Lüchow lieber auf ihre Weise erkunden zu wollen. Das hat man jetzt davon, wenn die Emanzipation selbst vor der eigenen Freundin nicht Halt macht. I can't get no satisfaction, because ich nicht mit meiner Freundin ins Museum gehen kann, sondern alleine muß. Wie will man da gemeinsame Urlaubserinnerungen im Anschluß miteinander teilen, auch wenn diese Erinnerungen dann eventuell nur für mich angenehm gewesen sein werden? Aber bin ich nicht auch in alle diese Kirchen von Venedig bis Syrakus gelatscht, weil das eine von uns beiden – etwas sehr zu viel nach meinem Geschmack – interessiert hat?
Für die Wiederbegegnung nach unserer kurzen Beziehungsauszeit vereinbaren wir den Lüchower Burgturm als Treffpunkt und gehen dann entgegengesetzter Wege. Mein Weg führt mich natürlich direkt zum Stones Museum. Über dem Eingang, die Fassade komplett ausfüllend, sieht man kein Bild, auf dem die Stones abgebildet sind, sondern Ulli. Ulli trägt darauf eine Sonnenbrille, einen Lederzylinder, unter dem seine halblangen ergrauten Haare hervorstiepeln, eine Nietenjacke und ein T-Shirt mit dem Stones-Logo, der ausgestreckten Zunge aus knallrotem Mund. Auch sein Zylinder und die Jacke sind mit Aufnähern, die dieses Motiv zeigen, übersäht. Außerdem zielt Ulli, in Anlehnung an das berühmte Bild von Uncle Sam, mit dem Zeigefinger seiner totenkopfberingten Hand auf den Betrachter und grinst dabei wie der Haifisch, der Zähne hat. Selbst wenn ich es noch geschafft hätte, meine Freundin bis zum Eingang des Stones Museums zu locken, spätestens bei diesem Anblick hätte sie kehrt gemacht und mich für ziemlich bekloppt gehalten, ihr sowas zumuten zu wollen.
Nun könnte vielleicht die Frage aufkommen, wer ist ULLI? Ich hab das natürlich erst später herausgefunden. Sein voller Name lautet Ulrich Schröder. Und er ist der Inhaber des Museums und darüber hinaus sicher der größte Fan aller Zeiten. So erklärt sich wahrscheinlich auch der Name des Museums. Es heißt ja auch nicht „Rolling Stones Museum“, sondern „Stones Fan Museum Lüchow“. Wer weiß, ob es in diesem Museum überhaupt um die Rolling Stones geht? Womöglich handelte es sich eher um ein Ulrich-Schröder-Museum, der zwar eben Stones Fan ist, und dies auch sehr deutlich bekundet, aber wir kriegen die Stones niemals ohne die Begleiterscheinung „Ulrich Schröder“. Es ist wie mit dem Platonschen Höhlengleichnis. Du erblickst nicht die Stones außerhalb der Höhle, sondern immer nur in der Höhle - als Schatten an der Wand - den Ulli in seinen Stones-Requisiten.  

Ich schließe mein Rad an die Laterne vor dem Museum und trete durch den Eingang ins Dunkle. Gleich ist es ein paar Grad kühler. Durch den Eingangsbereich hindurch öffnet sich der Raum wie der Kuppelsaal einer Tropfsteinhöhle. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Am Kassenschalter gewahre ich eine leicht pummlige, der Frauen nicht mehr ganz jüngste, die mich nun anlächelt wie Zauberin Zirze, der ein Odysseus auf seiner Reise nach Lüchow in die Fänge geraten ist. Zehn Euro kostet der Spaß, die ich berappe, auf dem Eintrittsbillett lacht mir wieder dieser Ulli entgegen. Mit Filzstift handgeschrieben steht auch sein Name auf dem Billett. Ich entdecke eine zweite Person. Halblange graue Haare, büromäßig gekleidet, sitzt sie am Computer. Das ist bestimmt Stones Fan Ulli, der sein Fansein zum Beruf gemacht hat. Ansonsten bin ich wohl der einzige Besucher in dieser Halle. Ich sehe einen Bartresen. Eine Bühne. Davor etliche Sessel in unterschiedlichster Ausführung. Überall Vitrinen. Auch die Bühne ist mit Zeug vollgestellt. Ein bißchen erinnert das Ganze auch an den Selbstbedienungsflohmarkt, an dem wir in Büttlingen vorbeigekommen sind, nur größer. Alte Plattenspieler, Tonbandabspielgeräte, LP-Hüllen, E-Gitarren, typische Kleidungsstücke der Sechziger, Bücher. Aber nicht nur über die Stones. Auch eins über Maschine, den ehemaligen Puhdysfrontmann, sogar signiert, für nur 25 Euro. Doch bisher wollte das keiner haben. Vielleicht wäre der Kaufanreiz größer, wenn nicht der alte Ostrocker das signiert hätte, sondern Mick oder Keith. Ich trete an eines dieser Minikleider aus den sechziger, die von Schaufensterpuppen getragen werden, heran. Ein Zettel steckt an ihm, auf dem steht: „Mini-Kleid … 60 Jahre“. Hätte man sonst gar nicht gewußt. In einer anderen Vitrine sehe ich seltsam vermurkelte Stones Figürchen auf einem runden, braunen Untersatz. Hier hilft das Schild: „Let it Bleed - Torte, gespendet von Susanne Reck-Sonntag, St. Georgen, Schwarzwald“. Also eine Schwarzwälderkirsch-Stones-Fan-Torte. Und so, wie die aussieht, stammt sie wahrscheinlich auch aus den 60igern. Gut, daß sie hinter Glas ist. Man bekommt gleich richtig Appetit. Dazu läuft die ganze Zeit im Hintergrund Musik, von einer Band, die ihren Zenit jedoch schon etwas überschritten hat. Es gibt auch größere Ausstellungsstücke wie die beiden Super S-Klasse Mercedese (Baujahr 90 und 92) von Bill Wymann. Offenbar auch mal ein Bandmitglied. Ich kenne ja nur die beiden bekanntesten, Mick Jagger und Keith Richards. Wie ich erfahre, gab es sogar mal ein Gründungsmitglied der Stones, daß die Band gleich wieder verlassen mußte, weil es optisch nicht zu den anderen paßte. Ich stelle mir vor, wie die ihm sagen, sorry, aber leider mußt du die Band wieder verlassen, weil, na weil du für uns einfach zu häßlich bist. Man fragt sich natürlich, wie häßlich der gewesen sein muß, um nicht mal bei den Rolling Stones mitmachen zu dürfen. Auf den Fotos ist der Unterschied zu den anderen eigentlich nicht so riesig. Zum Glück kann mir das bei unserer Lesebühne nicht passieren. Dafür sind Peter und Andreas hoffentlich viel zu nett. Und nach 11 Jahren wäre das auch schon etwas zu spät mit einer optischen Verbesserung unserer Lesebühne. Für den Zweck laden wir uns ja immer hübsche Gastautoren ein.
Tatsächlich ist das häufigste Motiv auf den Fotos in diesem Museum, praktisch gleich auf mit den Stones, eben der Ulli. Fotos wie er den Stones hinterherreist bzw. wie er sich auf weltweiten Konzerten, die von den Stones ja für solche Fans mit preußischem Pflichtbewußtsein bis ins hohe Alter durchgeführt werden, geradezu ranschmeißt, um ein Autogramm zu ergattern für sein Museum. Und immer mit diesem Zylinder auf dem Kopf und dieser Nietenjacke mit den vielen rausgestreckten Zungen an. Es gibt sogar Gemälde im Stones Fan Museum zu sehen. Diverse Ullis in Öl. Ullis getuscht. Will nicht jeder von uns einmal verullit werden in einem Akt der Verschmelzung mit dem, was man innigst verehrt? An diesem Ort merke ich: nee. Ich bin auch gar nicht so der Fan von irgendwem. Manchen Musikanten und viele Autoren allerlei Geschlechts finde ich durchaus sehr gut, schätze zum Beispiel Habermas (der übrigens noch länger als die Stones durch die Gegend tourt). Aber wäre ich nur einen Tag dazu in der Lage, ein Habermas-Fan-Museum zu leiten, mit Fotos von mir wie ich Habermas zu umarmen versuche?
Ich muß mal pinkeln und gehe auf die Toilette des Stones-Museums. Hier vollendet sich der Eindruck. Ich stehe an roten Pinkelbecken, die geöffneten Mündern gleichen und lasse es laufen. Neben mir an der Wand, gemalt von hinten, unverkennbar, Ulli.