Neulich war wieder unser Enkelkindchen zu Besuch und ich habe es zum ersten Mal zum Weinen gebracht, und dann gleich nochmal. Tolle Leistung als Opa!
Doch zuerst gibt es einige technische Neuerungen über das Kind zu berichten. Seine primäre Fortbewegungsart ist nicht mehr das Herumkullern, wie vor einem Monat, sondern das Krabbeln, zielgerichtet und sehr schnell in die Küche zu dem Behälter mit unseren leergetrunkenen Weinflaschen. Es zieht eine Flasche raus und schleckt am Flaschenhals. Ganz der Opa, denke ich gerührt, bevor ich eingreife. Ich hoffe natürlich, daß es mit zehn, fünfzehn und gerne auch mit dreißig Jahren immer noch so viel Interesse an Opas leeren Weinflaschen zeigt und es ganz großen Spaß haben wird, sie zum Glascontainer zu bringen. Derzeit ist es etwas zu klein für das schöne Flaschenwegbringespiel. Aber das Interesse geht in die richtige Richtung.
Immerhin kann es bereits stehen. Noch nicht frei, aber wenn es sich an etwas hochzieht und sich dabei festhält, sieht man mich hinter dem Kind mit den Händen in der Luft Bewegungen ausführen, als würde ich dieses seltsame Töne von sich gebende elektronische Instrument namens Theremin spielen, damit ich das Kind jederzeit halten kann, denn plumps, passiert es, daß es plötzlich nach hinten fällt. Und dann würde es ganz schrecklich weinen. Womit wir beim Thema wären: Ich habe mich der Tränen dieses kleinen Wesens, das bereits durch seinen Anblick bei Diabetikern jederzeit einen tödlichen Zuckerschock auszulösen imstande ist, schuldig gemacht. Dabei fing der Tag so schön an. Was ich schon immer mal machen wollte, sollte heute Wirklichkeit werden. Ich darf Kindereisenbahn fahren. Dazu sind Enkelkinder schließlich da, daß man Dinge mit ihnen unternimmt, die ohne sie etwas seltsam wirken würden. Ich freu mich auch schon total auf Topfschlagen. Muß das Kind eben etwas länger Wachbleiben, wenn die Gäste nacheinander die Augen verbunden und einen Kochlöffel von mir in die Hand gedrückt kriegen an meinem Fünfzigsten.
Nun soll das Kind erstmal seinen Nachmittagsschlaf halten. Will es aber nicht. Es brabbelt und brubbelt, nuckelt und zuckelt im Kinderwagen vor sich hin. Als wir den Ausschank neben der Kindereisenbahn erreichen und der Schlaf immer noch nicht vorbeigeschaut hat, biete ich mich kühnerweise an, das Kind eine Runde durch den Park zu schieben, während seine Mutter und die katholische Oma in Ruhe einen Kaffee trinken können. Wäre ja gelacht, wenn das Kind nicht bald schliefe.
Gelacht wurde dann auch nicht, dafür schrecklich geweint. Was mach ich denn jetzt? Keine Mama weit und breit. Alle Leute gucken zu mir herüber. Wieder so ein alter Vater, der für eine Jüngere seine Frau verlassen hat und nun nicht mal in der Lage ist, seine Blage zu beruhigen. Ich wollte schon rufen, ich bin doch nur der arme soziale Großvater. Aber das würde vermutlich auch nur Verwirrung stiften:
„Was hat‘er jerufen?“
„Der is`n asozialer Vater.“
„Nee, manche sollten sich echt ni‘ fortpflanzen.“
Ich schiebe immer schneller, gucke verzweifelt in verweinte Kinderaugen. Nuckel wieder rein, beruhigend gesäuselt, daß der Opa jetzt weiterschieben muß. Und wieder furchtbar weitergeweint. Bevor ich auch noch anfing zu weinen, war das Gartenlokal in Sicht, wo die Tochter meiner katholischen Freundin nun ihr Kind auf dem Arm beruhigend auf mich einredete, daß das doch gar nicht schlimm sei, es wolle heute eben nicht schlafen. Es bekam sein Fläschchen, beruhigte sich. Lachte wieder. Opa brauchte auch ein Fläschchen. Dann fuhren wir Kindereisenbahn. Die Lok knatterte, stieß Dieselduft aus und wir quietschten durch die Kurven. Das Kind begeistert. Opa begeistert. Bald werden wir Kindereisenbahn fahren ganz ohne Mama und Oma. Eine wunderbare Opa-Enkelkind-Zukunft, die gerade beginnt, wäre der Opa am Abend nicht noch einmal begeistert gewesen, als nämlich das Eins-zu-eins fiel bei der Fußballeuropameisterschaft. Da sprang ich abrupt hoch und jubelte so laut, daß das Kind, das gerade noch entspannt auf dem Schoß der Mutter gesessen hatte, vor Schreck zum zweiten Mal an diesem Tag zu weinen begann. Ich - der Hooliganopa, der regelmäßig sein Enkelkind zum Weinen bringt. Der akustische Grobian, der Kinderwagenschieberversager, der …
„Überhaupt nicht schlimm“, versicherten die Eltern, „das Kind wird morgen keine Erinnerung mehr daran haben, daß du so laut warst“.
Das ist ja beruhigend. Nur weil es so vergesslich ist wie eine schwer demente Pflegeheimbewohnerin, bin ich für das Kind am nächsten Tag wieder ein guter Opa. Erst später, wenn es erwachsen geworden sein wird, und sich fragt, warum es ausgerechnet bei Fußballeuropameisterschaften immer so komisch – wie aus dem Nichts – einfach losweinen muß, werde ich ihm wohl – nachdem es die leeren Weinflaschen von Opa weggebracht hat, soviel Zeit sollte sein – diese Kolumne zu lesen geben, damit es die bittere Wahrheit erfährt.