Lesebühne Kreis mit Berg

Kleine Kalendergeschichte

Zu Weihnachten bekomme ich immer von der Tochter meiner katholischen Freundin einen Kalender in Buchform geschenkt. Darin kann ich, als extrem erfolgreicher Lesebühnenautor, der ich bin, all die unzähligen und sehr lukrativen Auftrittstermine notieren, die sich natürlich gleich zu Beginn des Jahres ansammeln. Bereits Ende Januar habe ich einen ersten theatralischen Auftritt beim Zahnarzt. Darf das Bonusheft nicht vergessen!
Kalender sind eben ein gutes und nützliches Geschenk zu Weihnachten. Zumindest für diejenigen, die es verschenken. Nicht zu teuer, und man muß sich nicht übermäßig anstrengen, um etwas zu finden, was dem Beschenkten wirklich gefällt. Ideal für Familienmitglieder, Chefs, Arbeitskollegen, also Personen, zu denen einem überhaupt nichts Passendes einfällt. Von Adorno gibt es das schöne, aber auch unter Druck setzende Zitat über das wirkliche Schenken: „Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergesslichkeit.“ Adorno hat das Schenken garantiert seiner Frau überlassen.
Praktischerweise ist der Jahreswechsel immer kurz nach Weihnachten. Man stelle sich vor, der wäre noch, wie in der Antike, im Juli. Für die Kalenderbranche ein Alptraum. Jeder finanziell nicht ganz so erfolgreiche Künstler bastelt für das Weihnachtsgeschäft noch einen Kalender zusammen. Verlage könnten ohne Katzenkalender dicht machen. Kalender sind das perfekte niederschwellige Produkt im Jahresendgeschenksegment. Warum hat unsere Lesebühne eigentlich noch keinen Kalender auf den Markt gebracht?
Aber um hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, ich freue mich wirklich über meinen Kalender, den ich zu Weihnachten kriege. Er erinnert mich zwar immer etwas an das Hausaufgabenheft; nur stehen da jetzt nicht mehr so schlimme Dinge drin wie Freitag: Sport bei Herrn Höche. Oder am Sonnabend: von sieben bis acht Mathe. Auch wenn man es meiner beinah jugendlichen, von harter Arbeit glücklicherweise verschont gebliebenen Ausstrahlung kaum ansieht, ich kenne noch die Zeit, als der Schulkalender eine Spalte für den Sonnabend besaß. Vielleicht erlebe ich es noch, daß endlich auch der Freitag seinem Namen gerecht wird und mein Enkelchen eine Viertagewoche genießen darf.
Meine Oma besorgte sich ihre Wandkalender immer aus „Jutta’s Blumenoase“, Kalender mit Blumenaquarellen. Dahinein notierte sie sich jedes Jahr aufs Neue alle Geburtstage. Mir ist einer dieser Wandkalender von Oma aus dem Jahr 2007 erhalten geblieben. Deshalb weiß ich jetzt zum Beispiel, wann Gertrud Geburtstag hat, obwohl ich gar nicht weiß, wer Gertrud ist. Montags alle vierzehn Tage hatte Oma das Wort „gelb“ notiert. Was geschah an diesen gelben Montagen? Ich blätterte den Kalender durch und fand die ominöse Angelegenheit einmal vollständig ausgeschrieben: gelber Sack. Dank dieses Kalenders muß ich auch nicht meine Mutter fragen, an welchem Tag meine Eltern Hochzeitstag haben, es ist der 28. August. In die Zeile für den 13. August schrieb Oma „Mauerbau 1961“ hinein, am 9. November „Mauerfall 1989“, gleichzeitig ist das der Todestag von Hilde Kreis, der zweiten Ehefrau von Edmund Kreis, meinem Urgroßvater. Genaugenommen ist dieser Kalender das Grundgerüst für einen Roman. Den muß nur noch einer für mich schreiben. 

Falls ich den Jahreswechsel 2024 verschlafen hätte, wäre mir in unserem Treppenhaus trotzdem irgendwann aufgefallen, daß die Zeit weitergegangen ist. Pünktlich zum ersten Januar befestigen die Nachbarn in der Etage unter uns immer einen neuen Kalender an der Hausflurwand. Andere Menschen hätten dort vermutlich einen ästhetisch ansprechenden Kalender hingehängt, das würde jedoch mentalitätsmäßig überhaupt gar nicht zu unseren Nachbarn passen. Sie besitzen einen Schäferhund. Sie halten extrem aggressive Wasserschildkröten. Sie sind Dauercamper. Und so schauen auch ihre Kalender aus. Am liebsten mögen sie Schäferhundkalender. Das sind Kalender, auf denen Schäferhunde zu sehen sind. Aber es hätte schlimmer kommen können. Zum Beispiel ein Porsche-Kalender oder ein Mercedes-Benz-Kalender oder ein BMW-Kalender. Wahrscheinlich gibt es auch schon längst AfD-Kalender, die uns mit zwölf sehr deutschen Motiven durch das braune Kalenderjahr führen. So eine Art Anti-Erotik-Kalender mit Fotos von Beatrix Storch, Björn Höcke und Tino Chrupalla.
Nein, so sind unsere Nachbarn nicht drauf. Um etwas Abwechslung in den Hausflur zubringen, gibt es durchaus auch mal Kalender mit anderen Hunden. Einmal gab es sogar einen Kalender mit Fotos, auf denen Hunde genau in dem Moment abgebildet worden sind, als sie mit weit aufgerissener Schnauze nach einem hingeworfenen Leckerli schnappten. Man hatte den Eindruck, wenn man diesem Kalender nur etwas zu nahekäme, wird man gleich gebissen.
Wenn es nach mir ginge, würde ich im Hausflur einen Katzenkalender bevorzugen. Oder einen Kalender mit Dampflokomotiven. Am besten Katzen auf Dampflokomotiven. Ich will nicht mit dem Zaunpfahl winken. Aber nach Weihnachten ist vor Weihnachten, und mit diesen privaten Informationen über mich, die jedem, der das hier liest, nun zur Verfügung stehen, dürfte es noch nie so einfach gewesen, mich mit einem Geschenk zu erfreuen, womit man mich, wie es Adorno ausdrückte, als Subjekt denkt.
Vielleicht lesen und denken unsere Nachbarn ja mal mit.