Lesebühne Kreis mit Berg

Hiddensee im November

Wenn man im November nach Hiddensee fährt, ist man jemand, der bereit ist, Geld auszugeben für keinen Autoverkehr, keine Party, kein Event, kein schönes Wetter und möglichst auch keinen Spaß. Spaß ist oft laut und nicht selten gefährlich. Das kann für die Erholung nicht hilfreich sein.
Dafür wird es ab 16:30 Uhr bereits dunkel und kalt. Dann geht man rein, nachdem man vorher vier Stunden im Nieselregen und in völliger Ereignisarmut über die Insel gelaufen oder geradelt ist. Ein paar Kilometer hin, ein paar Kilometer zurück. Immerhin waren wir schon so oft auf Hiddensee gewesen, daß wir auch wirklich gar nichts Neues mehr entdecken konnten.
Wer mag, könnte nun in dem letzten, zu dieser Jahreszeit noch geöffnet habenden Gasthaus Hotel Godewind im Gegenwert des Bruttoinlandsproduktes einer mittleren europäischen Volkswirtschaft einen gebratenen Fisch bestellen oder auf den zwei Elektroplatten in der Küchennische des in dieser Jahreszeit vergleichsweise erschwinglichen Ferienraumes einfach selber kochen. Einfach ist es zwar nicht, auf den beiden besagten Kochplatten überhaupt zwei Töpfe nebeneinander zu stellen, doch ein bißchen Herausforderung und Abenteuer am Tag geht in Ordnung.
Und dann machen wir etwas, bei dem ich gar nicht weiß, ob ich das verraten darf. Wenn man als Paar schon solange zusammen ist wie wir, probiert man nämlich auch mal Sachen aus, die man sich zu Beginn einer Liebebeziehung noch nicht getraut hat. Wir spielen Halma. In jeder Hiddenseeer Ferienwohnung befindet sich eine Spielesammlung, im Regal mit den Büchern „Die Spur der Hebamme“, „Das Geheimnis der Pilgerin“, „Dornen Zeit. Ein Hiddenseeroman“, „Die Bluterbin“, „Das Erbe der Päpstin“, „Die Henkerstochter“, „Die Geliebte des Papstes“, „Die Entscheidung der Hebamme“, „Die Pestärztin“, und „Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen“. Mehr muß man über den Buchmarkt in Deutschland nicht wissen.
Jeden Abend spielen wir nun einmal Halma und zweimal Mensch-ärgere-dich-nicht. Anstatt primär meine eigenen vier Figuren sicher ins Ziel zu bringen, stalke ich lieber die meiner Freundin und verfolge sie über das Spielfeld. Habe ich endlich die richtige Zahl gewürfelt, um sie rauszuschmeißen, lache ich laut auf und stoße triumphierend ihre Figur um. Ich finde, es macht doch viel mehr Spaß, gegen jemanden zu spielen, der mit Leidenschaft dabei ist. Auch an der Halmafront versuche ich, ohne übertriebene Rücksichtnahme vorzugehen, und spiele Kampfhalma. Eine Variante, die sicherlich auch Putin gerne spielt. Ich ziele brutalstmöglich auf die Zerstörung der Infrastruktur des Gegners ab. Meine Freundin sagt, daß es ihr überhaupt nicht wichtig sei zu gewinnen, will dann aber jedes Mal nicht mehr mit mir spielen, wenn ich wieder gewonnen habe. Mir scheint, daß darin ein gewisser Widerspruch liegt. Warum spielt man ein Brettspiel, das nach den Regeln immer damit enden muß, daß einer verliert, wenn man nicht gewinnen will und ärgert sich dann, wenn der andere gewinnt? 

Bevor wir diese Frage ausdiskutieren, was nicht unbedingt vorteilhaft für mich endet, wird es Zeit für unsere Lieblingsurlaubsbeschäftigung. Sie hat etwas mit „Mann und Fru“ zu tun, dem Rostocker Kümmel, den ich im Tiefkühlfach deponiert habe. Essen ist die Sexualität des Alters, heißt es. Bei uns gilt die Devise, Trinken ist die Erotik des Alkoholikers. Um den Schnapsgenuß jedoch nicht ausufern zu lassen haben wir eine Regel aufgestellt: Der Kümmelschnaps soll ein Getränk bleiben, dem wir nur an der Ostsee oder zumindest nur in Ostseenähe zusprechen. In der letzten Zeit fiel mir allerdings auf, daß die Ostsee manchmal schon nördlich von Magdeburg beginnt. Könnte es sein, daß wir inzwischen ein risikohaftes Trinkverhalten an den Tag legen? Ich denke nicht. Iwo. Quatsch. Woher denn! Selbsterkenntnis ist nur was für Menschen, die mit der Unwahrheit nicht leben können. Bei genügend Kümmel schnarchen wir recht selig nebeneinander ein. Daß Kümmel gut für den Magen ist, kann ich nach fünf Tagen allerdings nicht bestätigen.
Am Tag der Abreise warten wir schließlich am Kai von Vitte auf die Fähre nach Schaprode und sehen in die Gesichter von Menschen, die sehr wenig erlebt haben. Ihr dürft euch uns als erholte Menschen vorstellen. Mit etwas Sodbrennen und einem leichten Kater.