Bis zu jenem denkwürdigen Ereignis habe ich noch nie die Innenstadt von Bitterfeld betreten. Wozu auch? Man tritt auch nicht mutwillig in einen rostigen Nagel. Denkt man an Bitterfeld, denkt man an Chemie, verpestete Luft und den Spruch: „Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in …“ eben da. Und als ich nun zum ersten Mal vom Bahnhof Richtung Innenstadt ging und schließlich im Zentrum von Bitterfeld stand, habe ich gedacht, Mensch Bitterfeld – das ist ja wirklich häßlich. Bitterfeld ist so häßlich, daß man sich wundert, warum Bitterfeld nicht schon längst einen Oberbürgermeister von der AfD hat. Wo, wenn nicht hier? Das Schönste an Bitterfeld – falls man das so sagen kann – ist ein riesiges mit Wasser gefülltes Tagebaurestloch, das zu Fuß in zehn Minuten vom Markt über eine Abrißfläche, die als Innenstadt fungiert, zu erreichen ist.
Nun war ich freilich nicht hier, um die Schönheit Bitterfelds zu bestaunen. Für die Gegenkundgebung am Vortag der Wahl hatten die Initiatoren einen Poetry Slammer angefragt. Die Wahl fiel ausgerechnet auf mich. Nun schreibe ich wie manche meiner Slammer-Kolleg*innen keine Texte, in denen das Publikum endlich mal gesagt bekommt, wie schlecht es wäre, die AfD zu wählen oder – um es mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten – wie gut es wäre, sie nicht zu wählen. Die Veranstalterin meinte jedoch, dies sei kein Problem. Wichtig wäre nur, daß die Texte nicht zu intellektuell seien, denn es würden bei solchen Veranstaltungen erfahrungsgemäß viele Kinder vor Ort sein und Menschen mit Migrationshintergrund, die Deutsch nicht so gut verstehen. Natürlich. Bitterfeld liegt nicht weit von der Landesgrenze entfernt, dann sind bestimmt auch einige Sachsen anwesend.
Apropos nicht zu intellektuell: Zwei Tage vorher habe ich ein Video von Matthias Matussek gesehen. Er war irgendwann mal Kulturchef beim Spiegel, inzwischen präsentiert er seine Bücher auf Veranstaltungen der AfD. Wieviel Geld müßte mir die AfD anbieten, damit ich bei denen lese? Ich stelle mir das vor wie bei dem Film „Ein unmoralisches Angebot“. Auf einer Klassenfahrt in den frühen 90igern haben wir den im Kino gesehen. Fast die Hälfte der Klasse, also die Mädchen, wollten dort rein. Die andere Hälfte – zufälliger Weise fast alles Jungs – nicht. Die Handlung: Ein Milliardär (gespielt von Robert Redford) bietet einem verschuldeten Ehepaar eine Million Dollar an, wenn die Ehefrau (Demi Moore) mit ihm schläft. Für ein wirkliches Dilemma hätte man die Rolle allerdings – wie ich finde – nicht mit Robert Redford besetzen sollen, sondern mit Karl-Heinz Manske, unserem Hausmeister. Mit dem fidelen Kellerbewohner aus der POS-Juri-Gagarin Beischlaf auszuüben, das ist doch schon fast so, als würde man als Autor eine Lesung machen bei der AfD. Obwohl dieser Vergleich dann doch etwas unfair ist gegenüber dem Hausmeister.
„Wäre es eigentlich schlimm“, fragte ich meine katholische Freundin, „wenn ich mal auf einer Veranstaltung der AfD lesen würde?“
„Nö, wenn es nicht schlimm für dich ist, wieder Single zu sein.“
„Und wenn wir eine Million kriegen?“
Meine Freundin überlegte: „Mhm, dann mußt du das unserem Bekanntenkreis sehr gut erklären.“
„Okay, dann lese ich doch erstmal lieber für 100 Euro gegen die AfD.“
Auf dem Platz standen ein Bühnen-LKW mit Public-Viewing-Monitor, Bierbänke und Info-Stände von den Linken, Grünen und der SPD. Sie alle setzten sich zähneknirschend dafür ein, daß morgen der CDU-Amtsinhaber wiedergewählt würde. Der lief über den Platz und wollte Hände schütteln. Auch meine, die er ergriff, bevor ich wußte, wie mir geschah, und mich fragte, woher ich komme. „Aus Halle“, antwortete ich. „Ich äh … bin Autor und lese hier gleich was vor“. „Aha“, sagte er, und schüttelte bereits dem nächsten die Hand. Immerhin waren noch ein paar Bitterfelder zum Händeschütteln gekommen. Neben der Bühne war eine Hüpfburg errichtet worden, Kindern tobten, schossen Bälle durch die Luft. Auf dem großen Bildschirm erschien plötzlich Sebastian Krumbiegel von den Prinzen mit einem Statement. Er sagte: „Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in …“, und er habe nicht gedacht, fuhr er fort, in diesem Leben nochmal dazu aufzurufen, lieber die CDU zu wählen, und ich dachte, fürwahr, ich auch nicht, und blätterte ratlos in meinen Texten nach etwas, das mir geeignet schien, hier gleich vorgelesen zu werden. Vor mir trat dann noch ein Schlagersänger auf, der hauptberuflich in der Verwaltung tätig war, und dann eine Frauengruppe der evangelischen Kirche, die ein Friedensgebet sprachen, und ich stand bereit hinter dem Bühnen-LKW, als ein Ball angeflogen kam von den Kindern. Ich wollte ihn zurückschießen, traf den Ball nicht richtig, so daß er gegen einen Baum prallte und abgelenkt auf einen Becher mit Brause zurollte, von einem dieser Kinder. Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Der Ball erreichte den Becher um eine Sekunde eher als das Kind, das noch hingerannt kam, um ihn zu retten; zack, Volltreffer. War das nun das Einzige, was ich hier und heute in Bitterfeld bewirkte, nämlich einem armen Kinde die Brause umzuschießen, das aufgrund dieses Traumas eines Tages womöglich noch die AfD wählt, bevor ich in ein übersteuertes Mikro ein paar akustisch desolate Gedichte las, um danach schnell wieder in Richtung Halle zu verschwinden? Natürlich nicht! Am Wahlabend zeigte sich: Die AfD konnte – nicht zuletzt von mir – verhindert werden.