Auf Facebook gibt es seit einigen Jahren ein seltsames Phänomen. Diverse Seiten mit hunderttausenden von Fans widmen sich ausgiebig dem schönen Leben in der DDR, sodaß ich mich frage, warum ein so wunderbarer Staat überhaupt untergegangen ist. Motorsportfreunde rühmen Simsons und Schwalben. Fernsehfreunde erinnern sich an „unsere Stars“. Und Feinschmecker schwelgen komplett ironiefrei, wie sehr ihnen Tote Oma gemundet habe. Sie posten Fotos, auf dem ein Teller mit Soljanka zu sehen ist oder mit Senfeiern: 688 Likes. Obwohl Senfeier wahrscheinlich auch im Westen gegessen wurden, sind Senfeier nun Teil der ostdeutschen Identität geworden. Pech gehabt Wessis. Die Senfeier sind unser! Die habe ich tatsächlich auch sehr oft in meiner seligen DDR-Zeit genossen. Seitdem nie wieder. Am schönsten war, mit dem Eierschneider das Ei in gleich große Scheibchen zu zerteilen. Das habe ich auch mal mit einem Käfer probiert, das ist bloß nicht ganz so appetitlich.
Mein Lieblingsessen als DDR-Kind waren natürlich Nudeln mit Tomatensoße. So wie es heute bei den kapitalistischen Kindern größtenteils auch der Fall ist. Nur wurde damals die Tomatensoße in Ermangelung von Tomaten ganz anders hergestellt. Die Tomatensoße bestand aus einer Mehlschwitze. Darin wurde etwas Tomatenmark – falls Oma und Mutti sowas ergattern konnten, um die bei Tomatensoßen dann doch nicht ganz unwichtige Rotfärbung herbeizuführen – verrührt und mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt. Diese sogenannte Tomatensoße ließen die beiden wichtigsten Köchinnen meiner geschmacklichen Frühsozialisation ein paar Minuten auf dem Herd, während auf der Flamme nebenan panierte Jagdwurst – für Westdeutsche komplett unverständlich, weil es ja nichts mit einem Schnitzel zu tun hatte – in einem magischen Pfannenakt zu einem Jägerschnitzel brutzelte, und fertig war auch schon das ostdeutscheste aller Nudelgerichte. Erich Honecker hätte sich die Finger danach geleckt. Kein devisenträchtiges Oregano, kein valutateures Olivenöl mußte dafür beschafft werden – woher denn auch – und keinerlei Knoblauch trübte den Genuß. Den ersten Knoblauch meines Lebens schmeckte ich erst im Jahre 1995 beim Besuch eines „Griechen“, der unschätzbare Pionierarbeit nach der Wende geleistet hat, um die ostdeutschen Zungen etwas weltoffener werden zu lassen. Es mangelte allerdings nicht am Knoblauch in der DDR, sondern an der Toleranz dieser Knolle gegenüber. Knoblauch war der „Russe“ unter den Zutaten. Der kam bei unserer strikten Küchenapartheit nicht ins Haus. Deutsch-sowjetische Freundschaft hin oder her. Darin waren sich Oma und Mutti und der Rest der ostdeutschen Herdbeherrscherinnen zumindest einig, daß nämlich die einzigen Menschen, die in der DDR Knoblauch aßen, was man ihnen angeblich auch sofort angerochen habe, falls man ihnen zufällig doch einmal näher kam als von der Staatsführung erwünscht, Russen gewesen sein müssen. Bis heute meidet meine Mutter Knoblauch, was mich wahrscheinlich dazu verleitet hat, in einer Revolte gegen die Küche meiner Herkunft, nun riesige Mengen davon zu verzehren, sodaß eine Dunstwolke über mir schwebt als marschiere eine Kompanie Sowjets ins Eigenheim meiner Eltern, wenn ich zu Besuch bin. Als ich mich 2015 für zwei Monate in St. Petersburg aufhielt, mußte ich allerdings feststellen, daß in den Küchen der Stolowajas fast überhaupt kein Knoblauch benutzt wird. Dafür Dill. Überall Dill, ob man Dill oder nicht.
Bleibt festzuhalten. Die DDR-Küche war – in ihren wesentlichen Erscheinungsformen – eine Küche des Mangels, der sich daraus ergebenden Kompromisse und der sprachlichen Schönfärberei.
Der VEB-Einheitsjogurt war dank der Gelantine aus Rinderknochen so stabil, daß man ihn aus seinem quadratischen Plastebecher komplett herausnehmen und auf einen Teller stellen konnte, im Sommer allerdings so flüssig, daß man ihn trank. Das Bier kippte schneller um, als man damit besoffen wurde. Die Schlagersüßtafel war gut, um jemanden zu erschlagen. Tote Oma hieß nicht umsonst so. Wenn in Kuba von der Schweinemast noch Apfelsinen übrigblieben, wurden sie in die DDR exportiert. Fremdsprachen, die im Osten nicht wirklich gut beherrscht wurden, machten aus einem Stück Leder ein „Steak au four“ und aus einem ordinären Saft einen Juice. Dazu fällt mir noch folgende Anekdote ein. Nach der Wende, als wir unseren ersten Urlaub in Bayern verbrachten, das erste Mal nicht an der obligatorischen Ostssee, bestellte mein Vater, weil er noch ein paar Kilometer Richtung Alpen fahren mußte, kein Bier bei der kräftigen Wirtin, die gerade an unseren Tisch getreten war, sondern einen Juice. Sie guckte ihn an und fragte: „A groaßes Wooßbier“. Mein Vater wiederholte seinen Wunsch nach einem Juice. „A kloanes Wooßbier“, fragte die Wirtin. Mein Vater sagte, schon langsam etwas entnervt: „Nein, einen Orangenjuice, bitte.“ Es dehnten sich die Sekunden zwischendeutscher Ratlosigkeit und dann sagte sie: „Krutzitürkn, oanen Soft wollns“.
Kein Wunder, daß wir Ossis nicht für voll genommen wurden.