Neulich im Salzwedeler Aldi wurde ich Zeuge folgenden Gesprächs. Ein älterer Mann zu seiner Frau: „Nehmer noch Eis mit, ich ess kee Eis mehr inner Eisdiele. Eenszwanzig fürne Kugel, die hamse wohl nich mehr alle.“ Dann häuften die beiden sich den Wagen voll mit dem guten Aldieis. Ich fühlte mich ein bißchen ertappt, denn für einszwanzig die Kugel habe ich jetzt bestimmt schon zum neunten oder zehnten Mal bei Lerches Eiscafé eine große Waffel genascht und fand die Einszwanzig überhaupt gar nicht so teuer, vielmehr als die beste Investition, die man gegen 17 Uhr in Salzwedel tätigen kann. Ich bin nämlich derzeit Stipendiat in Salzwedel, der trubeligen Metropole in der Altmark. Eisessen ist nun einer meiner täglichen Höhepunkte, bevor ich mich wieder auf den Liegestuhl, ich meine an den Schreibtisch begebe. Was habe ich in meiner Bewerbung behauptet, was ich hier schreiben wolle? Ach so, etwas über die Stadt und ihre Bewohner. Na dann komme ich wohl am besten meinen Pflichten nach.
Eine geheime Salzwedeler Informantin trug mir zu, daß man als Mann bei Lerches Eiscafé mal wieder extra privilegiert werde. Regelmäßig habe sie feststellen müssen, daß die Kugeln für Männer größer ausfallen als die für Frauen. Und wenn man als Frau nicht ausnehmend freundlich zu den eisausgebenden Damen hinter der Theke sei, dann fielen die Portionen sogar besonders klein aus. Nur durch eine geradezu übertriebene Freundlichkeit kann frau gegenüber ihrer eismächtigen Geschlechtsgenossin erwirken, daß diese gnädigerweise die Kugeln wieder vergrößert. Man sieht, es gibt für den Feminismus in Salzwedel noch viel zu tun. Vergleichbar mit dem Gender pay gap, der Lohnlücke zwischen Mann und Frau, haben wir es hier, bedingt durch eine Form der zwischenweiblichen Mißgönnerinnenhaftigkeit, von der wiederum wir Männer profitieren, mit einem eklatanten Gender ice gap, einer Eislücke zwischen den Geschlechtern zu tun. Als alter, eisessender Mann genieße ich freilich meine Riesenportion (im Sinne, teile und lecke) und bedanke mich überaus freundlich dafür bei der Eisverkäuferin.
Ein paar Schritte vom Eiscafé Lerche entfernt, trifft man auf das italienische Konkurrenzunternehmen im knallharten Eisgeschäft namens Guzzo. Auch hier konnte ich Gerüchten zufolge entnehmen, daß der Inhaber Guzzo, wie sollte es auch dem Klischee gemäß anders sein, mit der Mafia verbandelt sei und dort das schmutzige Geld der ehrenwerten Herren mit sauberem Eis ganz rein und weiß wäscht. Viel schlimmer wiege aber, so wurde es mir voller Empörung mitgeteilt, daß es dort nur Einweggeschirr gebe. Was ist in Deutschland schon ein Mafiamord gegen die Benutzung von Einweggeschirr? Guzzos Googlebewertungen sprechen hier eine deutschliche Sprache: „Becher und Besteck aus Pappe und Plastik. Wo kommen wir da denn hin? Zu faul abzuwaschen?“ heißt es zum Beispiel, oder: „In meinen Augen die reinste Umweltsünde. Eine Beschwerde an die Stadt für das Einwegmaterial ist raus.“ Auch bei der Müllvermeidung zeigen wir Tedeschi mal wieder eine Gründlichkeit, für die wir in der ganzen Welt bewundert werden. Da ich aber nicht irgendwann bäuchlings und kopfunter in der Jeetze Richtung Hitzacker treiben will, distanziere ich mich von meinen meckernden Mitdeutschen und werde demnächst also unbedingt auch einmal bei Guzzo – Einweggeschirr hin oder her – einen Eisbecher probieren.
Daß das Thema „Eisessen“ ein ganz heißes „Eis“ sein kann, war in diesen schönen Sommertagen auf Twitter zu beobachten, denn dort brach mal wieder einer dieser seltsamen Shitstörme gegen einen Kolumnisten der Süddeutschen Zeitung los, weil er in seiner Kolumne geschrieben hatte, daß es einem syrischen Freund obszön vorkomme, wenn Frauen in Deutschland in der Öffentlichkeit hemmungslos an der phallisch anmutenden Eistüte schlecken würden. Auch Möhren und Bananen würden in Syrien nicht in der Öffentlichkeit verzehrt, zumindest nicht im ungeschnittenen Zustand. Wenn man nun schon so komplett übersexualisiert durch den Alltag eiern muß, wie es einigen Syrern offenbar ergeht, dann halte ich - rein psychologisch betrachtet - den Anblick einer geschnittenen Banane allerdings für viel problematischer. Die Feministen der AFD haben sich dann natürlich auch gleich wieder zu Wort gemeldet und wollen den Kolumnisten gleich nach Syrien abschieben, der „unseren deutschen Frauen das Eislecken verbieten will“. Wo wären die Frauen ohne Pazderski, Höcke und Co., die Retter des leckenden Abendlandes.
Ich muß gestehen, wenn ich mir bei Lerches Eiscafé eine Tüte besorge, verzehre ich sie lieber in Ruhe und unbeobachtet seitlich auf einer kleinen Brücke, die auf einen stillen Hof führt, um niemanden mit meinem Anblick aufzureizen. Ich finde ja, Eisessen kann tatsächlich sehr obszön sein, wenn einem das halbe Eis im Bart landet.