Zeit, einmal kurz innezuhalten und danke zu sagen. Zunächst euch, dem geneigten Publikum. Manchmal denke ich, ihr seid Mitarbeitende des sozialtherapeutischen Dienstes, die uns jeden Monat signalisieren sollen: „Gut, daß es dieses niederschwellige Angebot gibt, damit die beiden nicht komplett auf die schiefe Bahn geraten“. Lesebühnenautor ist ja nur ein anders Wort für schwer integrierbarer Arbeitsverweigerer. Und wenn Faulheit und Gewohnheitstrinkerei mal wieder Überhand nehmen, seid ihr uns Ansporn und Mahnung, die Bierflasche gegen die Tastatur einzutauschen, um für euch wieder einen Text fertigzukriegen. Aber das ist – offen gesagt - natürlich nur ein Klischee. An dieser Stelle soll auch mal verraten werden, wie es hinter den Kulissen einer verschlurft wirkenden Lesebühne eigentlich aussieht.
Es ist 6:30 in der Frühe. Wie jeder normale Mensch möchten wir aufstehen und einer geregelten Arbeit nachgehen. Das ist nämlich genau unsere Zeit, um vorher noch zu joggen und kalt zu duschen. Aber wo kämen wir hin, wenn das alle tun würden. Gegen zwölf ruft mein Lesebühnenkollege Peter Berg an, und fragt mich, ob ich wach sei. Es geht um den Plakatentwurf für die nächste Veranstaltung. Meine Stimme aus der Waagerechten klingt leicht belegt als hätte ich am Vortag zuviel Alkohol konsumiert, was daran liegt, daß ich am Vortag zuviel Alkohol konsumiert habe. Öfter einmal gar nichts zu trinken, wäre schön. Aber diesen Luxus können sich nur Leute erlauben, die am nächsten Tag acht Stunden zur Arbeit gehen. Sobald ich nachlasse mit dem Trinken, schüttelt meine katholische Freundin streng mit dem Kopf und füllt mein Glas wieder auf. Sie weiß, daß ich einen Ruf zu verlieren habe. Gegen 12:30 darf ich mich endlich aus dem Bett erheben und mir mein Mittagessen zubereiten. Wenn meine Mutter nun zufällig anruft, teile ich ihr mit, daß ich gerade frühstücke. Sie denkt, daß auf diese Weise aus meinem Leben überhaupt nichts werden kann und ahnt nicht einmal, wieviel Aufwand dahintersteckt, sie das glauben zu lassen. Ab 13 Uhr müssen Peter und ich immer wieder zur Haustür gehen, um die Amazon-Bestellungen von Hausbewohnern entgegenzunehmen, wofür wir von Nachbarn und DHL-Männer einerseits zwar geschätzt, andererseits aber auch für Erwerbslose gehalten werden. Bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an zwei hallesche Autoren werden sie ihren Irrtum einsehen müssen. Zwischendurch betreiben wir etwas Onan … Onlinerecherche oder schreiben an unserem Text für die nächste Lesebühne. Manchmal gibt es auch eine gewisse Tendenz zum Zweittext. Doch wozu laden wir uns Gastautorinnen und -autoren ein? Da sie schon nicht genügend Honorar für ihren Auftritt in Halle erhalten, dürfen sie sich bei uns wenigstens ordentlich anstrengen für das Geld, was sie nicht bekommen, und viel mehr Texte lesen als wir.
Ob Peter das allerdings nochmal zehn Jahre durchhält? Jeden Abend zur selben Zeit muß er inzwischen eine Tablette schlucken. Er will mir aber nicht verraten, wozu die genau gut ist. „Muß ich nehm“, sagt Peter, und spült die Tablette mit einem großen Zug aus der Bierbüchse hinunter, bevor er sich die nächste Zigarette anzündet. Ich glaube, die Tablette hat was mit seinem Cholesterinspiegel zu tun. Zehn Jahre Lesebühne gehen ja nicht spurlos am Blutbild vorbei. Jeden Monat einen komplett neuen Text von drei Seiten zu schreiben, ist das eine. Das andere ist, sich zu bemühen, immer wieder so fertig und kaputt auszusehen, mit den Augenringen, dem leichten Übergewicht, das alles ist Schwerstarbeit. Noch erschwerender kommt hinzu, jeden Monat mit jemandem auftreten zu müssen, der so gut aussieht wie ich. Wieviel Selbstdisziplin und Uneitelkeit dazu nötig sind. Seine Hausärztin, die aufgrund eines seltsamen Umstandes auch meine Hausärztin ist, rät ihm, mehr Gemüse und weniger Fleisch zu essen, oder wenigstens mit dem Rauchen aufzuhören. Sie hat natürlich gar keine Ahnung davon, wie gern Peter das täte. Er träumt von Sellerie, Möhren und Porree, muß aber bei Penny zu Klopsen, Bier und Zigaretten greifen, um dem körperlichen Verfall eines Lesebühnenautors einigermaßen gerecht zu werden. Aus Solidarität habe ich im letzten Jahr zumindest zwei Kilo zugenommen; das bin ich Peter und den vielen anderen nicht mehr ganz frischen Bühnenkollegen schuldig. Andy M., unser Kollege am Banjo, raucht zwar auch und trinkt das eine oder andere Bier, lebt ansonsten aber viel gesünder, weil er – Gnade seiner Existenz – keine Texte dem finsteren Abgrund seiner Seele abringt, sondern fröhlich musiziert. Dieser Umstand ermöglicht ihm eine Festanstellung bei der Stadt Halle, sowie auch Kreditwürdigkeit und sogar Wohneigentum. Alles Dinge, auf die wir gerne verzichten, um jeden Monat für euch einen feinsinnigen Text zu schreiben wie diesen hier. Ich hoffe, ihr wißt das zu schätzen.
Meine katholische Freundin und Peters protestantische Freundin haben sich nun was überlegt, wie wir in Zukunft auch finanziell richtig durch die Decke gehen, nämlich mit Mördschendeising in Form von T-Shirts, auf denen wir auf ulkige Weise abgebildet sind. Um dem Publikum das modisch schmackhaft zum machen, werden wir die stylischen Teile, in denen unsere Körperformen sehr gut zur Geltung kommen, nun bei jeder Lesebühne tragen. Peter und Andy M. wissen noch nichts davon, ich bin mir aber sicher, daß sie diese Idee sehr gut finden müssen. Bestellungen nehme ich gerne an (alle Größen und Übergrößen möglich).