Lesebühne Kreis mit Berg

Die gute Tat zum neuen Jahr

Anfang Januar stand ich an der Kasse bei Penny, es hatte sich die übliche Schlange gebildet. Hinter mir wartete ein junger Mann mit nur einer Flasche Bier in der Hand. Ich bot ihm die Position vor mir an. Mein Wagen war gut gefüllt, neben dem Wochenendeinkauf noch jede Menge Bier- und Weinflaschen, denn letztes Jahr hatte ich im Januar einen sogenannten Dry January absolviert, weshalb ich zur Abwechslung in diesem Jahr nun einen Drunken January durchführen wollte. Nach einer Weile, die ersten Ungeduldigen des Jahres riefen schon wieder nach der Öffnung einer zweiten Kasse, drehte sich der junge Mann, dem ich den Vortritt gelassen hatte, zu mir um und fragte mich, ob ich so freundlich sei, die Flasche Bier hier für ihn mit einzukaufen, er habe leider seinen Personalausweis nicht dabei. Aber er sei natürlich schon sechzehn, behauptete er. Aus dem notdürftig mit den Pflegeprodukten von Clearasil abgedichteten Gesicht guckten mich zwei treuherzige Augen an. Und ich guckte streng zurück wie ein verantwortungsbewußter Staatsbürger, dem der Begriff Jugendschutz nicht unvertraut ist und sagte: „Ach, das soll ich jetzt wohl glauben. Sechzehn!!!“
Na ja, möglich wäre es. Er war etwas größer als ich, doch was heißt das schon. Die heutige Jugend wächst so vor sich hin wie einst die Karpfen in den Kühlwasserteichen des Atomkraftwerkes Greifswald. Das läßt sich doch rein äußerlich kaum noch einschätzen, ob die sechzehn sind oder erst sechs. Das war teilweise aber auch schon früher nicht ganz eindeutig. Als ich im Ferienkino von Prerow 1988 „Excalibur“ gucken wollte - manche erinnern sich vielleicht noch an die Sexszene zwischen König Artus und seiner bösen Halbschwester, obwohl ich mich nicht ganz genau daran erinnern kann, weil meine Mutter, die im Kino neben mir saß, mir dabei ihre Hand vor das Gesicht hielt - war ich am Kinoschalter plötzlich schon sechzehn gewesen; als ich wiederum 1992 aus einem Katalog zweifelhafte Videos im Wert von über 200 Mark bestellt hatte, schickte meine Mutter die dann allerdings zurück mit der Begründung, ich sei erst fünfzehn.  

„Sie können mir wirklich glauben“, beteuerte nun beinah flehentlich der junge Mann, als ich ihn immer noch skeptisch musterte. Und wir er so dastand, mit seiner Flasche Freiberger Pils, dachte ich mir, ach komm, was soll‘s. Ist es denn nicht so, daß wir Älteren uns nicht endlich auch mal solidarisch mit den Jüngeren zeigen sollten? In den Zeiten der Pandemie haben die jungen Menschen doch auf so vieles verzichten müssen. Die ersten Diskoabende, die ersten intimen Begegnungen und das erste Komasaufen samt Kotzattacke. Das sind schließlich wichtige Erfahrungen im Leben, die sie nun nachholen. Außerdem hat der junge Mann – was ich ihm wirklich hoch anrechne - kein Eber Pils genommen oder gar dieses No-name-billig-Bier namens 5,0 wie mein Lesebühnenkollege Peter Berg immer, der sich geschmacklich bereits komplett aufgegeben hat.
Sollte nicht genau an diesem Punkt die Bildung und Erziehung der jungen Menschen ansetzen, indem wir sie behutsam bei dem Genuß von gutem Alkohol unterstützen? Ich nahm also die beiden Fünfzig-Cent-Stücke, die er mir als Bezahlung für das Bier gleich schonmal hinhielt und gab ihm kopfnickend zu verstehen, daß er sein Bier mit zu meinen Flaschen auf das Laufband legen dürfe. Er war so dankbar, daß er sich anerbot, mir dabei zu helfen, die restlichen Flaschen aus meinem Einkaufswagen auf das Laufband zu legen. Da sage noch einer, die heutige Jugend sei nicht hilfsbereit. Doch so nett dieses Ansinnen gemeint sein mochte, ich verzichtete lieber darauf, weil das der Kassiererin unter Umständen etwas seltsam erschienen wäre. Normalerweise lasse ich meinen Einkaufswagen ja nicht von irgendwelchen Jünglingen entladen. Am Ende denkt sie noch, ich sei so ein perverser Onkel, der Minderjährige mit Alkoholika zu sich nach Hause lockt. An der Kasse wich er mir dann allerdings nicht von der Seite, wodurch dieser Eindruck jetzt auch nicht unbedingt abgeschwächt wurde, anstatt schon mal draußen auf mich zu warten, wo ich die konspirative Bierübergabe durchzuführen im Sinn gehabt hatte. Traute er mir etwa nicht über den Weg? Auf den ersten Blick verständlich, da ich inzwischen meine ausgebeutelte Jeanshose schon wochenlang am Leibe trug, nicht aus Faulheit oder Verwahrlosung, sondern um Ressourcen und Energie zu sparen, schnell erscheint man trotzdem wie jemand, der mir nichts dir nichts junge, unschuldige Menschen um ihre wohlverdiente Flasche Bier zu prellen imstande sei. Ich schob den Einkaufswagen nach draußen. Andererseits, eine Flasche Bier ist eine Flasche Bier. Wenn ich die behalte, würde der junge Mann lernen, daß solche illegalen Geschäfte mit einem dahergelaufenen Bierdealer ja tatsächlich nicht immer den Verlauf nehmen, wie sich das sein jugendlicher Kopf so ausgedacht hat. Doch man sollte es mit der Pädagogik auch nicht übertreiben. Draußen überreichte ich ihm dann das Bier, auf daß er es sich schmecken lassen möge, und worauf er sich nochmals bei mir bedankte, so daß wir uns trennten in dem guten Gefühl, dem unnötigen Konflikt zwischen den Generationen in diesen frühen Januartagen nicht auch noch Vorschub geleistet zu haben.