Neulich ging ein Pärchen an unserem Haus vorbei, als ich unten am Briefkasten stand. Das ist an sich noch nicht wirklich etwas besonderes. Es kommt tatsächlich oft vor, daß Menschen den Bürgersteig vor unserem Haus nutzen, während ich am Briefkasten stehe. Ich hatte die beiden aber schon ein paar Sekunden vorher in den Blick genommen, weil er, ein Typ mit langen, schon etwas angegrauten Haaren, seitlich ein Schild mit sich führte. Das weckte meine Neugier. Sie trug irgendwas Gefilztes auf dem Kopf. Beide waren schätzungsweise so um die Fünfzig, wohnten wahrscheinlich nur ein paar Straßen weiter und hatten es sichtlich eilig. Als sie heran waren, konnte ich sehen, was auf dem Schild stand: Ami go home, außerdem das Wort Nato durchgestrichen, und daneben war auch noch eine Spritze gemalt worden, ebenfalls durchgestrichen.
Ich weiß auch nicht, aber irgendwie überkam mich plötzlich ebenfalls eine Protestlust und ich rief: „Nato gut, Impfen auch“.
Beide drehten sich zu mir um, und sie entgegnete: „Da hast du was mißverstanden“, und er reckte trotzig, damit ich die Botschaft ihres Protestes nochmal gut erkennen konnte, das Schild in die Höhe, bevor sie in Richtung Innenstadt entschwanden.
Das war sie also, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war, die gespaltene Gesellschaft. Und ich war sogar ein Teil von ihr. Da fiel es mir auch wieder ein, es war ja Montag, der Tag, an dem seit Monaten so um die tausend Leute der sogenannten „Bewegung Halle“ sich eben durch Halle bewegten, um gegen die Corona-Diktatur zu demonstrieren. Kurz hatte man schon die Befürchtung gehabt, daß ihnen das Thema ausgehen würde, weil Corona nach zwei Jahren nicht mehr so viele vom Sofa lockte. Aber zum Glück überfiel Putin rechtzeitig die Ukraine, sodaß sie nun ihre Aktivität natlos auch als Protest gegen die Kriegstreiber in Berlin fortsetzen konnten. Man sah den beiden förmlich an, wie motiviert sie waren, sich nun gleich in den Demonstrationszug einzureihen. Eine gemeinsame, regelmäßig montägliche Pärchenaktivität, wenn man so will, eine sinnstiftende Quality time, die einer langjährigen Beziehung wieder etwas mehr Pep verlieh.
Und die beiden hatten sich wirklich Mühe gegeben bei der Gestaltung ihres Schildes. Wenn man vom Inhalt mal absieht, kann man den Protestlern durchaus ein Kompliment für die Kreativät bei der Umsetzung ihres Protestes machen. Man erinnere sich an die liebevoll selbstgebastelten Galgen, bei den Montagsdemonstrationen damals in Dresden oder was ich vor Monaten schon mal hier in Halle gesehen hatte, als ich die Coronaproteste von nahem in Augenschein nahm: Da kam ein Paar mit Regenschirmen bewaffnet daher, an deren Ende oben jeweils ein Bild befestigt worden war, das die Spitzen einer Mistgabel zeigte. Darauf muß man erstmal kommen. Eine echte Mistgabel hätte unter Umständen von der begleitenden Polizei als Mordwerkzeug in den Händen eines Lynchmobs mißverstanden werden können; so war es doch nur das symbolische Mordwerkzeug in den Händen eines symbolischen Lynchmobs, also alles im grünen Bereich einer freien Meinungsäußerung. Locker betrachtet war es sogar bloß die Abbildung eines Gartengerätes. Das solche Pazifisten nun für den Frieden und gegen Kriegstreiberei demonstrieren, ist dementsprechend nur folgerrichtig. Putin hat schließlich auch nur die Entwaffnung der Faschisten in der Ukraine im Sinn, wenn er Raketen auf Wohngebiete schießen läßt.
Falls man es noch nicht gemerkt haben sollte, ich bin übrigens einer dieser Kriegstreiber, die Agnes Strack-Zimmermann des Paulusviertels, ein Bellizist. Das ist nicht der Fachausdruck für Polizeihund, sondern für jemanden, der den Krieg als Mittel der Politik für gerechtfertig hält. Zwar halte ich bloß die Verteidigung desjenigen, der angegriffen wurde, für gerechtfertigt, aber wenn man das immer so genau nimmt, kommt am Ende noch raus, daß Frau Merkel in ihrer Amtzeit nicht mal eine Diktatur errichtet hat, und dann wären einige womöglich völlig umsonst immer montags durch die Straßen von Halle gelatscht. Immerhin war es Bewegung an frischer Luft.
Aber wo könnte man sich montags einreihen, wenn man für das Impfen ist, aber gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Oder für Waffenlieferungen, aber gegen das Impfen? Es geht ja nicht immer so geradlinig zu, wie bei dem Pärchen, das an unserem Briefkasten vorbeigelaufen ist. Nun, es gibt eine Lösung. Ausgerechnet ein Facebookfreund, der seit zwei Jahren ununterbrochen Verschwörungsmythen über das Impfen verbreitet, postete kürzlich den Aufruf von einem Friedensdemonstrationsbündnis, das auf seiner Website ausdrücklich erklärt, daß es Menschen, die Verschwörungsmythen anhängen, eine Absage erteilt. Jetzt ist natürlich die Frage, wer unter diesen Prämissen überhaupt zum Demonstrieren erscheinen darf. Mein Facebookfreund jedenfalls schon mal nicht. Vielleicht ist es sogar ein Fehler dieses Aktionsbündnisses, die Klientel für ihre Aktion so zu verknappen. Am Ende ist das wie bei einer Fleischerei, die als Kunden nur Veganer akzeptiert. Damit schneidet man sich – um im Bilde zu bleiben – nur ins eigene Fleisch. Wenn Pazifisten allerdings nicht mit Leuten demonstrieren wollen, die Bill Gates den Impfmord an der Bevölkerung unterstellen (als ob Windows 95 nicht sein wesentlich schlimmeres Verbrechen wäre), ist das zumindest ein gutes Angebot.
Das ist natürlich trotzdem nichts für mich. Und für meine katholische Freundin auch nicht. Wir – als drei- und vierfach geimpftes Bellizistenpärchen – bleiben dann doch lieber jeden Montag beharrlich und demonstrativ zu Hause.