Neulich habe ich wieder einen Brief bekommen. „Lieber Herr Kreis, bemisst sich der Wert eines Weins auch für Sie nicht primär am Kaufpreis? Dann halten Sie es wahrscheinlich wie Oscar Wilde. Der meinte einmal: ‚Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden.‘ In diesem Sinne empfehlen wir Ihnen den Paul Mas Syrah! Dieser grundehrliche Rotwein aus dem Hérault gründet auf der beerenstarken Syrah-Note, der Sonne des Midi und der Charakteristik des Terroirs. Mit Ihrer Jacques’-Kundenkarte frönen Sie der Lebensphilosophie von Oscar Wilde zum Vorzugspreis von 5,60 Euro statt 6,95 Euro. Herzliche Grüße/ Karsten Müller“
Manche erinnern sich, Karsten Müller ist der Inhaber von Jaques Weindepot in Halle, bei dem ich Stammkunde bin. Seine Worte sind mir oft Labsal und erbauen mich gerade in dieser Zeit. Wie gern frönte ich der lebensbejahenden Philosophie Oskar Wildes, der auch von sich behauptet hat, er könne allem widerstehen, außer der Versuchung. Doch leider mache ich derzeit einen „dry january“ durch. So englisch hipp und leicht unaussprechlich es klingen mag, so deutsch und streng ist die Philosophie dahinter, in der nüchternen Denktradition von Kant, Hitler und meiner Mutter. Sie predigt Entsagung und verheißt eine entfettete Leber, rank und schlank wie die eines Roibuschteetrinkers.
Vier Wochen keinen Alkohol! Ich habe wahrscheinlich zuletzt vor über einem Vierteljahrhundert vier Wochen lang nichts getrunken. Was würde diese extreme Nüchternheit mit mir anstellen? Könnte ich die Welt noch ertragen, und, was erschwerend hinzukommt, die Welt in Form von Sachsen-Anhalt. Vielleicht war es diese existentielle Fragestellung, die mich ein solches Wagnis eingehen ließ? Statistisch betrachtet ist Sachsen-Anhalt übrigens das Bundesland mit dem geringsten pro Kopf Verbrauch an Alkohol. Und das bei Städten wie Magdeburg und Dessau! Das läßt sich wahrscheinlich nur damit erklären, daß die Menschen zum Ausgleich auf Crystal Meth umgestiegen sind.
Im Zeit-Magazin gab es einen Artikel zum „dry january“, der in erwartbarer Weise den Leser von den Vorteilen dieser Entsagungsübung zu überzeugen versuchte. Der zu diesem Zweck interviewte Mediziner behauptete sogar, ein Glas Wein pro Tag für den Mann, ein halbes für die Frau, mehr solle generell nicht getrunken werden. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich mich über diesen Medizinsexisten mächtig aufregen. Ein halbes Glas Wein! Was soll das bitte schön sein? Wenn ich das meiner Freundin erzähle. Schatz, ein halbes Glas Wein gibt es ab jetzt höchstens für dich, alles andere ist ungesund, hat der Arzt gesagt!, dann würde sie mir zeigen, was ungesund ist.
Es wird außerdem betont, wie erfrischt man durch den „dry january“ werde und welche Energien man dadurch bekäme. Dabei kann man doch gar nicht abschätzen, ob so viel Energie überhaupt gut ist. Wahrscheinlich macht Putin auch einen dry january bzw. einen трокенер Януар und ist nun voller Energie. Da wünscht man sich doch gleich wieder den versoffenen Jelzin zurück, mit einer Fettleber groß wie die Krim.
Für mich ist dieser Alkoholverzicht jedenfalls ein Experiment mit offenem Ausgang. Ich hoffe nur, daß niemand darunter zu leiden hat, weder meine Freundin noch unser Nachbar, dessen Garten, der an unseren grenzt, nun endlich mal annektiert gehört. Nach zwei Wochen ohne einen Tropfen halte ich das leider nicht mehr für ausgeschlossen. Und ich will nicht verhehlen, daß ich auch ein bißchen Angst davor habe, daß es mir nach diesen vier Wochen wirklich besser gehen könnte. Am Ende stünde womöglich die irrwitzige Erkenntnis, daß man ohne Alkohol gesünder durchs Leben käme. Aber wer will das schon? Was gibt es Schöneres als das sanfte Gluckergeräusch der Rotweinflasche, wenn sich das Glas füllt, bevor man es zum Mund führt, oder auch das zarte Zischen des Kronkorkens des ersten Bieres, der prickelnde Strom, der sich ohne Unterlaß in den Magen ergießt. Bis vor kurzem war ich noch so gut im Training. Vier Wochen Abstinenz könnten meine gut ertrunkenen Alkoholnehmerqualitäten völlig ruinieren. Es soll ja Menschen geben, die angeblich nach einer Flasche Rotwein bereits Probleme haben am nächsten Tag in die Gänge zu kommen. Dabei ist es ohne eine Flasche Rotwein am nächsten Tag viel schwerer. Oder müßte ich mich nur etwas überlisten, um den dry january durchzuhalten, im Sinne einer Philosophie des Als Ob? Seit einiger Zeit nämlich wird mir auf Facebook eine Werbung angezeigt, in der sich junge Menschen exzessiv, dandyhaft auf einem Sofa rekeln, und lasziv entzückt dreinschauen, als wären sie die dionysischen Jünger Oskar Wildes, so daß man sich natürlich fragt, was sie wohl eingenommen haben? Was erzeugt solch eine ungehemmte Lebensfreude? Bis man begreift, es ist der alkoholfreie Wein einer Firma namens Kolonne Null. Das Zeug muß offenbar der pure Wahnsinn sein. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß das Ganze ein bißchen was mit Marketing zu tun haben könnte und sich beim Trinken dieses alkoholfreien Weins doch nicht so viel Euphorie einstellt, wie uns die schönen Menschen auf der Fotostrecke weismachen wollen. Nach über dreißig Jahren Erfahrung mit dem Kapitalismus halte ich das inzwischen für durchaus möglich. Aber wer weiß? Eine Flasche kostet fast 15 Euro. Schon der Preis könnte dazu motivieren, eine ähnliche Ektase zu erleben, als sei man besoffen. Und vielleicht kriegt man davon sogar einen Phantomkater. Um hier auch mal wieder meiner Rolle als Influencer gerecht zu werden, habe ich es ausprobiert, und kann deshalb guten Gewissens all meinen beinah zwanzig Facebooklesern sagen:
Nein.
Investiert bei Karsten Müller in den grundehrlichen Syrah für 5,60. Denn Hurra, bald kommt der feuchte Februar.