Blitzknaller sind laut, verschrecken Tiere, erhöhen die Feinstaubkonzentration in den Innenstädten, provozieren schwere Verletzungen, sogar Todesfälle, darüber hinaus Kosten sie Geld, das man lieber für einen guten Zweck spenden sollte, und nachdem ich bei dm, Rossmann, Galeria Kaufhof, Müller, McPaper und McGeiz gewesen war, mußte ich einsehen, daß es auch Ende 2021 tatsächlich nirgends welche zu kaufen gab. Nicht einmal Tischfeuerwerk war zu haben, um das zweite Pandemiejahr mit einer halbwegs unproblematischen Verletzung im Krankenhaus zu beginnen. No risk, no fun. Selbst Wunderkerzen nicht, und wie sollte ich so meiner katholischen Freundin wieder unter die Augen treten? Sie liebt Wunderkerzen; das Glitzern in der Luft, das Britzeln auf der Haut, die kleine Brandblase am Daumen durch das zu heiß gewordene Feuerzeug beim Anzünden.
Wenn man sich zurückerinnert, was man früher alles so verballert hat! Die ganzen Chinaböller, Kanonenschläge und gesprengten Briefkästen. Zur Entschuldigung kann ich zumindest sagen, daß ich damals noch ziemlich jung gewesen war mit meinen gerade mal zweiundvierzig Jahren. Inzwischen kann ich auch Silvester feiern nur mit gutem Wein, teurem Sekt, reichlich Essen, ganz allein mit meiner liebevollen Freundin; aber nicht ohne Wunderkerzen. Ohne Wunderkerzen, keine liebe Freundin. An Silvester muß es bei ihr rauchen und blitzen.
Heringssalat darf auch nicht fehlen, mit Äpfeln und Zwiebeln. Wenn man den ißt, raucht und blitzt es hernach beinah ebenso. Was sind schon Polenböller gegen ... jedenfalls ist der Heringssalat ein traditionelles Gericht zu Silvester, nach einem alten Magdeburger Rezept von der Mutter meiner katholischen Freundin, von der wir jetzt erst, in ihrem 84 Lebensjahr, erfahren haben, daß sie diesen Heringssalat nie gemocht hat. So erklärt sich wahrscheinlich, warum unser Heringssalat auf allen Partys, zu denen wir bisher eingeladen wurden, nie alle wurde. Wer sich von diesem Heringssalat einen Nachschlag nahm, hatte offenbar wirklich Hunger. Ein Essen für den Appetit von 1945. Am liebsten mochten die Leute an diesem Salat die hartgekochten Eier, die oben drauf lagen. Das ist die Wahrheit. Aber meine Freundin möchte sie nicht hören und leugnet diesen Umstand so vehement wie die Querdenker die Gefährlichkeit von Corona. Sie freut sich allerdings jedes Mal, daß selbst weit nach Mitternacht immer noch so viel davon übrig bleibt, daß wir den ersten, zweiten und dritten Januar davon essen können. Mit den bereits angedeuteten Folgen, auf die ich – im Sinne einer langandauernden und glücklichen Beziehung - nicht weiter eingehen darf.
Bei McGeiz endeckte ich dann wenigstens ein paar Fackeln im Silvesterknallerersatzangebot. Drei Stück, für 5 Euro. Man sollte sich beim Anzünden dieser Fackeln bloß nicht wundern, wenn man plötzlich losmarschiert und „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ brüllt. Dann doch lieber Wunderkerzen, wenigsten eine oder zwei. Das muß doch im Kapitalismus möglich sein. Während ich mit den Fackeln unterm Arm Richtung Kasse ging, hörte ich noch eine junge, hübsche Frau, die offenbar aus Rußland stammte, die Kassiererin fragen, ob man hier bekommen kann Vögelfutter. Vögelfutter könnten wir im neuen Jahr eigentlich auch mal wieder gebrauchen. Egal. In einem Karton in der Nähe der Kasse entdeckte ich schließlich doch noch zwei einzeln verpackte Wunderkerzen, die geformt waren wie Glücksklee. Der Preis war auf zwei Euro heraufgesetzt. Pro Stück! Die brutale Versinnbildlichung von Angebot und Nachfrage. Ich kaufte sie trotzdem. Im Grunde meines Herzens bin ich wahrscheinlich doch ein Romantiker.
Um das Glück perfekt zu machen, ergatterte ich bei Rossmann die letzte Konfetti-Kanone von Halle, womit ich die Geister des Winters zu vertreiben gedachte. Dazu zehn Trommeln Munition. Das würde ausreichen, um eine 100 m²-Wohnung komplett mit Konfetti zu kontaminieren. Und das macht ja richtig viel Spaß. Allerdings – das will zugestehen – nicht in der eigenen Wohnung. Liebenswürdigerweise sind wir 2021 von duldsamen und toleranten Freunden, die es auch aufgrund ihrer sozialen Berufe gewohnt sind, mit verhaltensauffälliger Klientel umzugehen, wieder zu einer Party eingeladen worden. Wir brachten unseren leckeren Heringssalat mit. Dank meiner Konfettikanone zauberte ich noch ein bißchen Partystimmung in die Bude. Draußen wiederum war das übliche Inferno im Gange. Das Böllerverkaufsverbot war offensichtlich so hilfreich gewesen wie das Waffenembargo gegen die Hamas. Überall schossen Raketen in den Himmel, war schon der Straßenkampf entbrannt und ich stand da mit den beiden Wunderkerzen. Der Zeiger rückte vor auf zwölf, und während der Sekt entkorkt wurde, gelang es mir - nach mehrmaligen Versuchen, denn es war leicht windig - die beiden wie Glücksklee geformten, teuersten Wunderkerzen meines bisherigen Lebens unter den kritischen Blicken meiner Freundin doch nicht anzuzünden. 2022 kann also nur besser werden.