Lesebühne Kreis mit Berg

„Druschba statt Nato“ oder die schöne „junge Welt“

In der letzten Zeit bekam ich auf Facebook ständig Werbeanzeigen der „jungen Welt“ zu sehen. Falls jemand die „junge Welt“ nicht kennen sollte, es ist ein ostlinkes Traditionsblatt, das derzeit seinen 75. Geburtstag feiern und mir ein Abo andrehen möchte. Womit habe ich das verdient? Okay, ich war Thälmannpionier, ich bekleidete sogar das Amt des Agitators (Rangabzeichen ein roter Streifen auf meiner weißen Pionierbluse) und forderte meine Mitschüler sehr oft auf, für Frieden und Sozialismus bereit zu sein. Aber das ist doch lange her. Inzwischen bin ich ein braver Konsument in Sachsen-Anhalt unter der kolonialen Knute der BRD. Warum zeigt mir Facebook nicht lieber Katzenvideos oder Tui-Reiseangebote? Wo ist der Kapitalismus, wenn man ihn mal braucht? Der freut sich natürlich, weil Facebook Geld mit den Anzeigen der „junge Welt“ verdient, die ich nun sehen muß. Nach welchen Kriterien haben sie die Zielgruppe ihrer Anzeigen bestimmt: Geboren vor 1980, wohnhaft auf dem ehemaligen Gebiet des „besseren Deutschlands“, googelte schonmal nach einem Soljankarezept?
Daß ich immer mehr Artikel von der „jungen Welt“ zu sehen bekam, lag dann wahrscheinlich auch daran, daß ich mich hinreißen ließ und einen Artikel angeklickt habe. Überschrift „Druschba statt Nato“. Darin wird auf eine „junge Welt“-Ausgabe des Jahres 1978 zurückgeblickt, in der von der Freundschaft der DDR mit der Sowjetunion geschwärmt wurde, vom „Tatendrang“ der jungen Republik beim Aufbau der Druschba-Trasse, und dann - plötzlicher Sprung in die Gegenwart - der Kommentar: „Kein Vergleich zum heutigen medialen Geifer und der politischen Stimmungsmache, wenn es um Nord Stream 2 geht.“ Daran anschließend die beiden folgenden Sätze: „In der Bundesrepublik, die sich die DDR einverleibt hat, bleibt das Vermächtnis des sozialistischen deutschen Staates verfemt. Es sei denn, es geht um Teile der Erbmasse wie die neun Haubitzen aus NVA-Beständen, die Estland aktuell an die Ukraine liefern will.“
Da war ich doch interessiert, wer der Autor dieses Artikels ist. Er heißt Michael Merz, und war, nach eigenem Bekunden, 1989 einer der letzten Schüler, die in die FDJ eingetreten sind. Also ungefähr so alt wie ich. Heute ist er stellvertretender Chefredakteur der „jungen Welt“. Ich war sogar mal Chefredakteur – der Schülerzeitung einer Gesamtschule in Halle-Neustadt, im Rahmen des Ganztagesangebotes auf Honorarbasis, aber das ist eine andere Kolumne. Zufälligerweise kenne ich allerdings mit meinem Vater einen der Montagearbeiter, die im Jahre 77/78 an der Druschba-Trasse gearbeitet haben, in der Nähe von Talnoje, auf dem Gebiet der Ukraine. Mein Vater erzählte mir, wie er damals mit Sommerklamotten dort gelandet ist und von einem ukrainischen Mütterchen erstmal in einen Mützenladen geschleift wurde, damit er sich nicht den Kopf abfriert (das Ding hat er immer noch und gehört zu meinem zukünftigen Erbe). Wie seine Stiefel dann im Frühjahrsschlamm stecken blieben und er auf Socken zurück zum Bauwagen lief. Wie die ausgehungerten sowjetischen Mäuse die Fingerkuppen der unachtsamen Schläfer, die ihre Hände nicht unter der Decke ließen, anfraßen. Und wie es Kloppe gab, wenn einer dieser ostdeutschen Maltschiks zu lange mit einem Mädchen tanzte, - also nicht viel anders als bei einer Dorfdisko im heutigen Sachsen-Anhalt. Was mein Vater aber auch nicht vergessen hat zu erzählen, daß die notwendige Mess- und Regeltechnik, die sie an der Trasse verbaut haben, aus dem westlichen Ausland importiert worden ist. Soviel zum Vermächtnis der DDR, ohne den Westen lief es nie.  

Was hat Michael Merz eigentlich noch so geschrieben? Die meisten seiner Artikel sind leider auch bei der „jungen Welt“ hinter der marktwirtschaftlich aufgenötigten Bezahlschranke. Nur die Anfangsätze kann man lesen, zum Beispiel diese aus einem Artikel, der mit „Böse DDR“ überschrieben ist: „Gemeinschaftliches Erleben statt vereinzeltes Dahindümpeln, humanistische Werte statt Hartz IV, Pioniernachmittag statt Playstation – in der DDR seine Kindheit und Jugend verbracht zu haben, hatte schon was. Jeden Tag war richtig was los. Und die Heranwachsenden haben dabei sogar jede Menge gelernt.“ Wahrscheinlich gehörte Michael Merz auch zu denen, die die Kubaapfelsinen aus der Schulspeisung, die wir nur benutzten, um sie andern an den Kopf zu werfen, richtig lecker fanden. Sehr unangenehm wird die „junge Welt“ aber erst, wenn sie die seelische Nostalgiebetreuung altgewordener FDJler sein läßt und sich zur Kommentierung des Überfalls der russischen Truppen auf die Ukraine anschickt. Dann heißt das nicht Angriff, sondern „russische Operation“, dann bilden „Faschisten das Rückgrat der ukrainischen Armee“. Dann könnte man den Eindruck gewinnen, die „junge Welt“ habe in Putin einen begeisterten Abonnenten gefunden.
Und bei all dem frag ich mich, wie einst der mit allem Witz und Verstand gesegnete Wiglaf Droste für die „junge Welt“ jemals Kolumnen schreiben konnte. Oder ist die Meinungspluralität dort größer, als ich es in meiner anekdotischen Betrachtung vermute. Lieber Michael Merz, wenn das so sein sollte, betrachten sie diesen Text bitte als Bewerbungsschreiben. Denn falls Sie irgendwann mal wieder einen Kolumnisten suchen, ich bin – großes Pionierehrenwort – immer bereit.