Der November ist mein Lieblingsmonat. Es ist grau, es regnet, meine katholische Freundin wird langsam wieder winterdepressiv, es gibt Feiertage wie den Volkstrauertag und schöne Rituale wie die Gräbersegnung. Passend dazu steigen die Coronazahlen. Das Schönste im November ist jedoch die Verabschiedung der Schildkröte. Im November schläft sie viel, bewegt sich kaum noch, aber im Unterschied zu meiner Freundin, kommt sie am Ende des Monats in eine Kiste, um dort zu überwintern. Das ist der Schildkröte Adé-Day. Das wäre doch für alle die beste Lösung. Den Stoffwechsel runterfahren, die Klappe halten, anstatt bei Facebook Unsinn zu posten, und ab in die Winterstarre. Der Energieverbrauch in den nächsten vier Monate wäre minimal. Kaum CO2-Emissionen. Keine Sozialkontakte. Und im Frühjahr ausgeruht wieder beginnen, wenn die Pandemie vorbei ist (na ja, dieser Scherz sei zur Aufmunterung gestattet).
Kein Wunder also, daß Reptilien bei solchen evolutionären Vorteilen Millionen Jahre lang die Erde beherrscht haben. Reptiloide wie Angela Merkel, Bill Gates und Helene Fischer tun es sogar immer noch, wenn man den wissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Youtubekanal des Ronni-Kasulke-Instituts Glauben schenken möchte. Unzweifelhaft ist jedoch, daß ich seit 20 Jahren von unserer Schildkröte beherrscht werde. Eigentlich wollte ich damals nur eine Freundin haben. Als Kollateralbeziehung kam jedoch diese Schildkröte dazu. Die Schildkröte gehört eigentlich der Tochter meiner Freundin. Die Tochter zog irgendwann aus, die Schildkröte nicht. Nun muß ich mich um diese Schildkröte kümmern, bis ich tot umfalle. Es ist ja nicht so, daß ich was gegen Schildkröten hätte, wenn sie behaart wären, miau sagen würden und aufs Katzenklo gingen. Und nach 15 Jahren sterben würden, wie sich das für ein ordentliches Haustier gehört. Aber eine griechische Breitrandschildkröte kann mindestens 80 Jahre alt werden. Vielleicht hat man es schon herausgehört, ich hätte lieber ein anderes Haustier. Eines, daß ich mir wenigstens selber aussucht habe und nicht der Ex-Mann meiner katholischen Freundin. Er kam nämlich vor über 25 Jahren auf die Idee, der Tochter meiner Freundin eine Schildkröte als Haustier zu schenken. Da sieht man mal, in welchen Zeiträumen sich Schildkröten bewegen. Der Ex-Mann wohnt inzwischen in Kalifornien. Darf er sich seiner Verantwortung einfach so entziehen? Manchmal überlege ich, einen Karton mit Luftlöchern zu besorgen. Und es dürfte bestimmt nicht so schwer sein, seine Adresse dort herauszubekommen.
Man sollte sich, was Schildkröten anbelangt, nichts vormachen. Es gibt kluge, sehr liebevolle Tiere und es gibt Schildkröten. Unsere heißt übrigens mit vollem Namen Kassiopeia. Wie die Schildkröte in „Momo“. Michael Ende, der Autor des Buches, stellt Schildkröten darin als weise Kreaturen dar, woran man erkennt, daß Kinderbücher oft sehr verlogen sind. Wenn eine Schildkröte dich mag, kommt sie an, und versucht dir in den Fuß zu beißen. Wenn sie dich nicht leiden kann, kommt sie an, und versucht dir in den Fuß zu beißen. Ihr Gefühlsausdruck ist so facettenreich wie der eines finnischen Auftragskillers. Schildkröten sind Einzelgänger und mögen es nicht, daß man sie streichelt. Wirf einen Stock, die Schildkröte wird dir den Stock nicht wiederbringen. Schildkröten sind, was soziale Interaktionen anbelangt, eine riesige Enttäuschung. Der größte Vertrauensbeweis einer Schildkröte ist, wenn sie in deiner Gegenwart entspannt Stuhlgang hat.
Trotzdem mögen Kinder Schildkröten. Als ich neulich einen Online-Schreibworkshop mit Elfjährigen durchführen mußte, weil ich freiberuflich bin und das Geld brauche, war die Schildkröte meine Rettung. Ich habe sie vorher extra mehrere Stunden unter die Wärmelampe gesetzt, obwohl es ja bereits Mitte November ist, damit sie einigermaßen aufgeweckt daherkommt, und nicht wie eine Schildkrötenleiche erscheint. Man will die Kinder ja nicht total schockieren, es reicht schon, daß sie in meinen Kurs geraten sind. Als ich, wie zu erwarten war, in diesem Online-Schreibworkshop nicht mehr weiterkam, weil diese elfjährigen Menschen ultraschnell alle Schreibübungen fertig hatten, hielt ich die Schildkröte einfach in die Kamera des Laptops. Was war das für eine Freude! So verstrichen wieder ein paar Minuten. Nach dem Schildkrötenangucken sollten die Kinder dann noch ein Schildkrötengedicht schreiben. Funktionierte prima, und dann waren es tatsächlich nur noch wenige Minuten bis zum erlösenden Ende der Zoomkonferenz. Meine Freundin meinte dazu, ich würde unsere Schildkröte für meinen Job mißbrauchen. Aber ich finde es nicht schlimm, wenn die Schildkröte auch mal arbeitet. Das Futter kostet schließlich Geld. Das fällt ja nicht vom Himmel, das muß man sich verdienen. So ist es mir jedenfalls von meinem Vater beigebracht worden, als er mir die ganzen Kosten für mein etwas aus der Regelstudienzeit gelaufenes Studium vorgerechnet hat, das er komplett finanzieren mußte. Warum sollte es unserer Schildkröte genauso gut gehen wie mir! Das verdirbt den Charakter.
Doch dafür, daß sie mir so brav mit den Kindern geholfen hat, darf sie jetzt noch mal in die warme Badewanne. Dort kackt sie sich ein letztes Mal richtig aus. Man möchte schließlich auch nicht mit vollem Bauch vier Monate im Bett liegen. Und dann stecke ich sie in die Kiste im kühlen Hausflur. Meine Freundin würde sich am liebsten dazulegen. Manche Paare haben eine Wochenendbeziehung, wir hätten eine Jahreszeitenbeziehung. Erst im Frühjahr hole ich sie wieder aus der Kiste, füttere sie mit einem Topf Chili con Carne, damit sie zu Kräften kommt, und dann, dann machen wir es wie die Schildkröten - und legen uns in die Sonne.