Vor einem halben Jahr rief mich Herbert Beesten an und verkündete, daß es wieder einen Lima-Lesebühnenwettbewerb geben würde. Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, die arg lädierte Wandertrophäe aus Styropor und Klebeband loszuwerden, die seit unserem letzten Gewinn bei mir auf dem Küchensofa verstaubte. Gegenüber meinem Lesebühnenkollegen Peter Berg mußte ich damals sogar die Zusicherung abgeben, im Falle eines Sieges die Trophäe unbedingt zu mir zu nehmen, sonst liest er lieber einen ganz schlechten Text. Das Ding sieht nämlich wirklich nicht schön aus. Insofern paßt es aber auch wieder ganz gut zu einem Wettbewerb, der in Magdeburg stattfindet.
2013 sind wir das erste Mal angetreten. Wir bekamen zwei Freigetränke und einen Essengutschein für eine vegetarische Speise, was wir Herbert zu verdanken hatten, der gerade frisch zum Vegetarismus konvertiert war. Es wurde uns auch ein Übernachtungsplatz zugesichert. Herbert meinte, na ja, Übernachtungssplatz… Es wäre vielleicht gut, wenn wir einen Schlafsack und eine Isomatte dabeihätten. Und ja, im Nachhinein betrachtet wäre es auch noch gut gewesen, ein Holzkreuz und einen Ring mit Knoblauch am Mann gehabt zu haben, denn wir wurden in einer riesigen, seit einiger Zeit bereits leerstehenden Villa der katholischen Kolpinggesellschaft untergebracht, ohne Strom und Wasser, dafür befand sich draußen ein Dixiklo, wo man nachts im fahlen Magdeburger Mondschein seinem einsamen Geschäft hätte nachgehen können, bevor man dem Ripper von Sudenburg begegnet. Drinnen lagen Matratzen verstreut auf dem Boden, die den Eindruck erweckten, als hätten sich einst die Priester des Hauses darauf an ihren Schützlingen vergangen. Unvergesslich der starre Gesichtsausdruck der jungen Slampoetry-Mannundfrauschaft aus Hannover, als ihnen gewahr wurde, wo sie heute Nacht zu schlafen hatten, schon dafür hatte sich die Teilnahme am Lima-Lesebühnenwettbewerb gelohnt; es war wohl die schlimmste Unterkunft ihres noch ach so jungen Lebens. Augenblicklich traten sie die Flucht in Richtung Bahnhof an, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch eine Bahn zu erwischen. Hauptsache raus aus Magdeburg.
2014 traten wir erneut an. Diesmal gab es sogar veganes Essen, weshalb ich mich vorrausschauend mit Wurststullen versorgt hatte. Wie wir von einer Kölner Lesebühne erfuhren, hatten sie – noch vorrausschauender – ihr bescheidenes Honorar wohlweislich komplett in ein Hotelzimmer investiert, zu dem sie nun aufbrachen, während wir von Herbert zu einer Wohnung gebracht wurden, die gerade leer stand, da ihr Vormieter aus altersbedingten Gründen auf den Friedhof umgezogen war. Ein reinlicher Duft von Desinfektionsmitteln umgab uns, was darauf schließen ließ, daß die Räumlichkeiten vor einem Wiederbezug gründlich gereinigt worden waren. Außerdem befand sich die Wohnung innerhalb eines Altenheims, was wir schon als puren Luxus empfanden, schließlich gab es dort elektrisches Licht und sogar ein Wasserklosett, wir legten unsere Schlafsäcke auf dem Fußboden aus, und machten es uns gemütlich, als wir vom Hausflur her Schritte von Bettflüchtigen hörten, die manchmal an der Tür klinkten, aber es war ja von innen abgeschlossen.
Auch 2015 durften wir wieder antreten. Der Lima-Lesebühnenwettbewerb fand im Rahmen eines Kunstfestivals statt, das Herbert zusammen mit Karsten wieder mit viel Engagement organisiert hatte, und gerade in diesem Jahr war es eine außergewöhnliche Location, in der wir dann auch, wie sollte es anders sein, übernachten würden, ein Ort der seit kurzem nicht mehr seiner eigentlichen Bestimmung diente, aber noch den ganzen Charme und die Atmosphäre verströmte, die so eine alte Justizvollzugsanstalt haben kann. Dort kam es leider zu einer kleinen Meinungsverschiedenheit zwischen Peter und mir. Mein Zellengenosse war nämlich der Auffassung, er könne nur bei geöffnetem Fenster schlafen. Er brauche frische Luft. In dem Moment konnte ich nachvollziehen, warum es zwischen Häftlingen oft zu schockierenden Gewalthandlungen kommt. Es tut mir ja leid, aber wer bei geöffnetem Fenster schlafen will, sollte sich bitte nicht wundern, wenn jemand ein Kissen ganz fest auf sein Gesicht drückt. Ein geöffnetes Fenster bedeutet Zugluft, einen steifen Nacken, und Erkältungen. Zum Glück begriff Peter schnell, daß bei geöffnetem Fenster auch die Beats aus den Boxen der riesigen Musikanlage, die in dieser Nacht auf dem Hof bis früh um fünf für Stimmung sorgte, sehr deutlich zu hören gewesen wären.
Damit hatten wir eigentlich alles erlebt, was man bei dem Lima-Lesebühnenwettbewerb erleben kann und dabei die spannendsten Übernachtungsmöglichkeiten kennengelernt, die Magdeburg zu bieten hat. Und daß man uns bei einer weiteren Teilnahme noch in einer Magdeburger Leichenaufbewahrungshalle unterbringen würde, traute ich schließlich selbst Herbert nicht zu. Umso unglaubwürdiger erschien mir nun die Konditionen für den Lesebühnenwettbewerb 2021. 450 Euro für jeden. Plus Fahrtkosten, und, jetzt kommts, mit Hotelübernachtung. Hotel! Ein Bett, eine Dusche. Was ist der Haken? Sollen wir nackt lesen oder - wie bei innovativen Veranstaltungen üblich - auf die Bühne urinieren? Das wäre ja noch okay gewesen, doch Herbert hat die ganzen Gelder vom Land Sachsen-Anhalt nur deshalb bekommen, weil das Landesmarketing Sachsen-Anhalt als das Bundesland mit der größten Dichte an Unesco-Weltkulturerbe bewerben möchte. Wir stehen in Sachsen-Anhalt also nicht nur „früher auf“, „denken modern“ und sind das „Ursprungsland der Reformation“, nein, wir haben auch das meiste Unesco-Weltkulturerbe. Und nicht nur das, wahrscheinlich sind wir unter den Bundesländern auch noch die größten Angeber, über die sich zurecht alle lustig machen. Dementsprechend sollen die Texte im weitestgehenden Sinne vom Unesco-Weltkulturerbe handeln. Zumindest wäre es gut, wenn man in seinem Text das Thema Unesco-Weltkulturerbe angemessen erwähnt, damit die Förderkriterien für das Projekt zum Thema Unesco-Weltkulturerbe auch erfüllt werden.
Was tut man nicht alles als Lesebühnenautor für eine Hotelübernachtung!