Lesebühne Kreis mit Berg

Toniebox

Das Enkelkind hat eine Toniebox bekommen. Die intuitive Bedienung hat sogar der Opa (Ich) schnell verstanden. Eine Toniefigur, die zum Beispiel aussieht wie die Maus aus der gleichnamigen Sendung, wird auf die quadratische Box gestellt und dann spielt das Gerät eine Auswahl von Liedern aus dieser Sendung. Das Kind freut sich, klatscht in die Hände. An der Box gibt es noch zwei Griffe, die aussehen wie Katzenohren und wenn man an das größere Ohr greift, wird die Musik lauter (und ans kleinere dann leiser). Das Enkelkind hat auch eine Toniefigur, die deutlich erkennbar den Traumzauberbaum darstellt. Das weckt bei Leuten wie mir selige Erinnerungen. Ich bin gerührt und freue mich, das wieder zu hören. Und nach dem fünften Mal freue ich mich, wenn das Kind versonnen aus dem Fenster schaut, damit ich den Traumzauberbaum auf dem obersten Regal hinter den Büchern verschwinden lassen kann.
Nein, das macht der Opa natürlich nicht. Er hört sich Lied um Lied an, Toniefigur um Toniefigur, bis er perfekt mitsingen kann. Damit der Leser auch was davon hat, gebe ich hier gleich einen Ohrwurm zum Besten: 1. Strophe: „Wo schlafen Bärenkinder? in Höhlen schlafen sie, in Höhlen schlafen sie“. 2. Strophe: „Wo schlafen Entenkinder? Im Freien schlafen sie, im Freien schlafen sie.“ 3. Strophe: Wo schlafen Hasenkinder? Im Grase und so weiter. Das Lied hat sehr viele Strophen. Irgendwann variiert mein Gehirn. Wo schlafen Bandwurmkinder?, im Darmtrakt schlafen sie, im Darmtrakt schlafen sie. Oder die österreichische Variante „Wo schlafen Josef Fritzels Kinder?, im Keller schlafen sie, im Keller schlafen sie“.
Kürzlich habe ich einen Zeitungsartikel gelesen, in dem eine Pädagogin und ein Musikethnologe vor problematischen Kinderliedern warnen, die aus den Tonieboxen in die Ohren der Kinder schallen, mit schlimmen Folgen für das ganze weitere Leben. Und ich denke, ja richtig. Besonders für das Leben von geplagten Großeltern. Aber das war nicht gemeint, sondern es werde in einigen Liedern Rassismus, Sexismus und toxische Verhaltensweisen reproduziert. Da fragt man sich natürlich, wurde für Tonieboxen Musik eingespielt von Rammstein?

Im Artikel werden auf den ersten Lausch recht harmlose klingende Lieder genannt, auch welche, die unser Enkelkindchen schon oft gehört hat. Immerhin heißt es nicht Jule, wie die – inzwischen erwachsene – Tochter von Bekannten von uns. Der Liedermacher Gerhard Schöne hat einfach nach einem billigen Reim auf das Wort „Schule“ gesucht und überhaupt nicht darüber nachgedacht, was er damit anrichtet. Im Gegensatz zu der Person im Lied hat sich nämlich die Tochter unserer Bekannten immer gewaschen. Aufgrund dieses Liedes mit jener Jule, die keine ausreichende Körperhygiene walten läßt, in Verbindung gebracht zu werden, fand sie von diesem doofen Gerhard überhaupt nicht schöne. Wenn man acht ist, nur zu verständlich. Da nutzen die Kleinen jede Spottgelegenheit, um sich das Leben gegenseitig schwer zu machen. Die Pädagogin im Artikel kritisiert diesen Liedtext allerdings nach heutigen Maßstäben nicht nur als Jule-Shaming, sondern als „Bodyshaming“. Die Botschaft, die Kindern vermittelt werde, laute: „Mädchen, ihr müsst hübsch sein und gut riechen, sonst kriegt ihr keinen Mann ab. Das ist das Gegenteil von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Selbstakzeptanz“. Man möchte gleich ein Lied texten, in dem jede Jule und alle anderen Mädchen - aber auch Jungen und nonbinäre Personen - fröhlich und selbstwirksam vor sich hin stinken dürfen.
Als ich selbst noch ein Enkelkind war, hat mir meine Oma, wenn ich bei ihr über Nacht war, zum Schlafengehen immer „Fuchs du hast die Gans gestohlen“ vorgesungen. Das mochte ich ungemein, ohne die semantischen Konnotationen dieses Liedes, in dem ein Fuchs mit dem Schießgewehr eines Jägers bedroht wird, auch nur ansatzweise verstanden zu haben. Glücklicherweise erfährt man dann später von jemandem, der seine tausendseitige Doktorarbeit darüber geschrieben hat, wie schlimm das eigentlich gewesen ist, sonst hätte man das fast nicht mitbekommen.
Meine Oma gewordene katholische Freundin macht, ich will diesen Umstand nicht verschweigen, gern „Hoppe, hoppe Reiter“ mit dem Enkelkindchen. Jeder kennt die problematischen Zeilen: „Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er“. Das Enkelkind lacht und juchst, und ruft „nomal“. Weil, es will natürlich „nomal“ in den Graben fallen. Meine Freundin läßt es in den Graben fallen. Laut Nepomuk Riva, dem Musikethnologen, wird damit unser Enkelkindchen dem symbolischen Kindstod ausgesetzt. Zitat: „Der Reiter darf nicht vom Pferd fallen. Hier wird das Spiel drohend mit einem Kindstod verbunden – das ist nicht mehr zeitgemäß“, so Riva. Er hat das Projekt „Kultursensibler Umgang mit Kindermusik geleitet“. Mag vielleicht etwas übersensibel klingen. Aber wenn es schon um den sensiblen Umgang mit Musik geht, fällt mir gleich jemand ein, dessen gesammeltes Machwerk den Straftatbestand der musikalischen Nötigung längst erfüllt und seit Jahrzehnten definitiv kulturunsensibel die armen Kinderseelen zertönt. Ich sage nur: „In der Weihnachtsbäckerei“, ein Rolf-Zuckowski-Verbot täte Not. Doch vor den eigentlichen Problemen verschließt man ja wieder die Ohren.