Lesebühne Kreis mit Berg

Betreuungsfreude

In letzter Zeit streut meine katholische Freundin subtile Bemerkungen gegenüber den Eltern unseres Enkelkindes beiläufig ins Gespräch, die da ungefähr so lauten: „Also wenn ihr mal ausgehen wollt, ins Kino zum Beispiel, oder mal Tanzen gehen, in eine Bar, dann würden wir euch dabei unterstützen und sogleich herbeieilen und sowohl stundenweise als auch tagelang auf unser Enkelkind aufpassen.“
Sie waren schließlich bereit, unser selbstloses Angebot auch anzunehmen, weil sie wußten, daß es nicht ratsam sein würde, schwerabhängige Enkelkindjunkies sehr lange hinzuhalten. Allerdings, so warnten sie uns vor, sei das Kind derzeit mit sprießenden Milchzähnen geplagt. Aus dem lachenden Wesen könne schnell ein schreiendes, recht steif auf dem Boden liegendes werden. Na, so schlimm wird es wohl nicht, man muß es doch nur ablenken und auch mal trösten, dafür sind doch Oma und Opa da. Oder wie sich das mit der Sprache langsam vertraut machende Kind uns inzwischen nennt: ‘ma und ‘pa. Die ‘ma und ‘pa sollen auch, nachdem wir am Enkelkindwohnort eingetroffen sind, sofort mit ins Kinderzimmer kommen. Es will uns etwas zeigen. Und zwar die neueste Attraktion, sein Töpfchen. Sogleich wird auch demonstriert, wie gut es auf dem Töpfchen sitzen kann. Das Töpfchen hat sogar eine Rückenlehne, man möchte fast neidisch werden. Warum gibt es eigentlich keine Klos mit Rückenlehnen? Was noch nicht so gut klappt, ist, in das Töpfchen auch etwas hinein zu machen. Muß es aber auch noch nicht. Die Zeiten sind vorbei, in denen ostdeutsche Anderthalbjährige mit Töpfchenhineinkackdrill neurotisch, aber stubenrein gemacht wurden. Spätestens mit Achtzehn merkt man doch, daß man nicht mehr unbedingt in die Hose machen möchte. Nach der Töpchendemonstration geht es ins Wohnzimmer, wo zuerst die Kiste mit den Zweiteile-Puzzeln herbeiholt wird. Behände fügt es Ente zu Entchen, Huhn zu Hühnchen. Wir loben unser kleines Genie, als hätte es gerade 2000 Teile mit sämtlichen Details von Florenz zusammengesteckt. Da läuft es in die Küche. Hat es schon Hunger? Im Küchenbuffet gibt es ein oberes Fach, von dem es weiß, daß dort die Maisplätzchen liegen. Ich folge ihm pflichtschuldig, um ihm ein Plätzchen zu geben. Nur ein Plätzchen? Da kenne ich es aber schlecht! Wozu hat die Evolution zwei Hände erfunden, doch nur, damit das so ausgestattete Lebewesen auch in jedes dieser Greifinstrumente gefälligst jeweils Maisplätzchen bekommt. Mit zwei sehr gefüllten Händen tappst es zurück ins Wohnzimmer und stopft sich den Mund komplett mit den Plätzchen voll. Ich sehe schon das Kind rot anlaufen. Zum Glück habe ich kürzlich erst an dem Online-Seminar der AOK Sachsen-Anhalt „Kinder-Erste-Hilfe - Gut beraten in Notfallsituationen“ teilgenommen, um als Großvater kompetent und schnell Wiederbelebungsversuche am Enkelchen durchführen zu können. Immerhin, so versuchte der Seminarleiter zu beruhigen, ersticken Kleinkinder extrem selten. Was mir aber trotzdem keine Beruhigung verschafft, wenn ich das Kind mit dicken Hamsterbacken durch den Flur in Richtung Wohnzimmer rennen sehe. 

Wir sollen auf das Kind aufpassen. Die Mindestanforderung dabei ist, daß es solange, bis die Eltern wieder zu Hause sind, überlebt. Das Kind hat aber kein Interesse am Überleben, sondern schiebt einen Stuhl ans Fenster und klettert auf den Stuhl. Es steigt auf den Heizkörper. Ich springe herbei und möchte es von dort wegtragen, was seinerseits mit Quengeln und einem Wegstoßen meiner Hand durch sein energisches Händchen beantwortet wird. Dann rutscht es weg, plumpst auf den Stuhl und stößt sich den Kopf. Hat der Opa es kommen sehen? Der Opa hat es kommen sehen! Das Kind liegt steif am Boden und weint sehr schlimm. Jetzt schnell ablenken. Wir Fliegen zum Bücherregal, wir fliegen hoch zur Deckenlampe. Wie lange fliegt meine Bandscheibe mit? Die klugen Eltern fangen mit sowas gar nicht erst an. Verraten sie mir später. Dummerweise ist man als Opa aber nicht klug. Als Opa hat man einen IQ von maximal 90. Das reicht, um als Hebebühne vom Enkelkind in Dienst gestellt zu werden. Und hoch zur Lampe und wieder runter. Und wieder hoch und wieder runter und wieder hoch und wieder runter und wieder hoch und wieder runter. Wahrscheinlich ist das bei Opas sowas ähnliches wie bei Müttern die Stilldemenz, nur das nicht die Erinnerung eingeschränkt ist, sondern der eigene Wille. Das Enkelkind nistet sich im Kopf des Großvaters ein wie dieser Parasit im Gehirn von Ameisen, der das Verhalten dann so manipuliert, daß der Wirt keine Kontrolle mehr über seinen eigenen Körper hat. Nach 20igmal zur Lampe hoch setze ich das Kind auf den Boden. Es streckt seine Ärmchen in die Höhe. Noch einmal zur Lampe? Na gut. Also wieder hoch. Zombieopi gehorcht. Wenn man bedenkt, daß manche in meinem hohen Alter von 47 noch Vater werden. Wie schaffen die das? Das Kind landet in den Armen von Oma und ich lege mich auf den Fußboden längelang hin und atme schwer. Keine Angst, der Opa stirbt nicht, er muß nur mal kurz ausruhen. Schade, daß man Wiederbelebungsversuche nicht auch an sich selbst durchführen kann. Von schräg unten sehe ich, das Kind läuft in die Küche, es möchte sein Fläschchen haben. Unverzüglich. Bevor es wieder zu weinen beginnt. Schau. Oma weiß, wie man Fläschchen macht. Opa muß nur noch ganz kurz liegen und ist bestimmt gleich wieder fit.