Dieses Jahr sollte es mal wieder ins Ausland gehen, ein Urlaub voller Abenteuer und Neuentdeckungen, was lag da also näher als ein Flug auf die exotische Insel Mallorca. Unser siebentes Mal. Vorher war ich noch in der halleschen Reisebuchhandlung gewesen. Wir besaßen zwar bereits drei Wanderführer für Mallorca, aber ein vierter würde nicht schaden. Der Buchhändler hatte leider nur den Rother-Wanderführer im Regal, den wir bereits besaßen, allerdings in aktualisierter Form. „Wollen sie den wirklich noch mal kaufen?“, fragte er in sich selbst geschäftsschädigender Weise. Die Wanderwege hätten sich in den paar Jahren doch wohl kaum geändert. Ich lächelte milde und erwarb das Buch. Wege auf Mallorca und nicht ändern - das sind oft Sätze von Menschen, von denen man dann nie wieder was gehört hat.
Den Profi erkennt man halt immer an der Vorbereitung. Meine besondere Spezialität sind Touren auf hervorragend ausgebauten Wanderwegen, die keinerlei Gefahr bedeuten, und die so gut ausgeschildert sind, daß man im Grunde gar keinen Wanderführer benötigt. Auf diese Weise haben wir die gut vierzig Wanderungen, die wir auf Mallorca schon bewältigt haben, tatsächlich alle fast problemlos überlebt. Nur die Wege zu den Müllabladeplätzen von Mallorca zu finden, ist ohne einen erfahrenen Führer kaum zu bewältigen und ich würde auch jedem davon abraten.
Leider schlich sich bei meiner katholischen Wanderfreundin gleich zu Beginn der Arthroseteufel ins Knie. Was war zu tun? Bloß weil die Mechanik nicht mehr ganz rund läuft, will man sich ja nach dreiundzwanzig Jahren nicht gleich wieder eine neue Freundin zulegen. Mit der liebgemeinten Drohung, wenn ihr Knie weiter so rumschmerze, müssen wir wohl ab dem nächsten Jahr am Ballermann Urlaub machen, holten wir motivationstechnisch noch mal alles aus ihrem Knie heraus. Was auch nötig war. Statt der im Wanderführer angegeben entspannten Rundwanderung zur Bucht von Cala Torta mußten wir nämlich aufgrund eines überraschenderweise wasserführenden Torrents (keinerlei Hinweis darauf im Rother Wanderführer!) umkehren und den selben Weg auf den steil zum Meer abfallenden Küstenfelsanstiegen wieder bis zu 60 Meter hinauf kraxeln (und runter). Ich bin eben überhaupt kein Freund von unerwarteten Überraschungen. In der Mallorca Zeitung liest man nicht von ungefähr regelmäßig Meldungen wie: „52jähriger Wanderer 60 Meter in den Tod gestürzt“. Aber auch: „Ein deutscher Urlauber ist im Flughafengebäude in Palma aus großer Höhe abgestürzt“. Selbst die ausgedehnten Wanderungen auf dem Flughafen von Mallorca (vermutlich zum Puig de Promille) können sehr tödlich enden.
Meine lädierte Freundin rieb sich dann abends das Knie mit Voltaren ein, dem guten Schmerzgel forte. Wir sind beide inzwischen zu stark abhängigen Voltarenisten geworden. Voltaren, das Opium für die Versteiften. Bei mir ist es die Schulter. Sobald ich einen Rucksack trage – und sei er leicht wie ein Vögelchen, mit einem Fläschchen Wasser darin, einem Schnittchen für unterwegs – liege ich abends in der Ecke, als wäre ich wieder bei der Bundeswehr im Grundwehrdienst und hätte einen Tagesmarsch mit 20 Kilo Gepäck absolviert. „Wo kann man sich sonst mal wieder wie achtzehn fühlen“, wimmerte ich neben meiner Freundin und nickte erschöpft vor meinem Glas Wein ein. Klar, man fühlt sich zwar eher wie ein Achtzehnjähriger, der von einer Straßenbahn überfahren wurde, aber immerhin. Und ausruhen kann man sich doch eh bald wieder auf Arbeit (falls man eine hat).
Anderntags fühlte ich mich dann wie ein Wanderwitwer. Während meine Freundin – zurückgelassen in Valdemossa – sich die Arthrosetour durch Kartause, Chopin und Café erhumpelte, stieg ich allein auf dem erzherzöglichen Reitweg hinan und immer höher zur Hochebene Pla des Ariteges. 620m Aufstieg. Verschwitz und körperlich vollkommen am Ende erreichte ich das Hochplateau. Herrlich! Solche Urlaube sollte Pistorius der deutschen Bevölkerung zur Erhöhung der Kriegstüchtigkeit empfehlen. Nur beim Orientieren im Gelände haperte es jetzt etwas. Unmotivierte Steinmännchen standen hier und plötzlich auch mal dort, ohne Interesse, mir die Richtung zu weisen, als ein ziemlich fittes spanisches Rentnerehepaar auftauchte. Wie Philemon und Baucis in Funktionskleidung wanderten sie Hand in Hand, sich haltend und stützend (so habe ich mir eigentlich unser gemeinsames Älterwandern vorgestellt), aber mit GPS-Gerät in der anderen Hand, das er stolz herzeigte und dazu mir irgendwas Spanisches sagte, was ich – obwohl ich kaum ein Wort auf Spanisch verstehe – mit „weiter, unübersichtlicher und schwer zu bewältigender Weg über kompliziertes Gebirgsgelände“ präzise übersetzte. Schon waren sie auch wieder davongewackelt, und ich hielt es gar nicht für unwahrscheinlich, daß es ein Steinmännchen mit seinem Steinweibchen gewesen war, die sich nach langem Herumstehen endlich mal wieder einen kleinen Scherz mit einem Wanderalemán hier oben erlaubt haben mochten. Auf einem Felsen über mir betrachtete mich ein Exemplar dieser braunschwarz Gehörnten und ließ ihr meckerndes Lachen vernehmen, was mir zu sagen schien, tja, hättest du mal den GPS-Track dieser Wanderung, der vom Rother Wanderführer zur Verfügung gestellt wird, auf dein Handy geladen, dann würdest du bergziegengleich den Weg über das Karstgestein finden und nicht – wie schade für einen gerade mal 47jährigen Jungautor wie dich – den Tod.
In dem Moment hörte ich einen über die ganze Hochebene gellenden Schrei. Erst habe ich gedacht, das sei ich gewesen. Wem immer das aus der verzweifelten Kehle drang, es klang sehr nach neuem Stoff für die Mallorca-Zeitung. Dabei war ich kürzlich erst Großvater geworden, würde ich mein Ekelkindchen jemals wiedersehen? Ich betete zum heiligen Jürgen, dem Schutzheiligen aller Ballermänner, und gelobte, ein Bett im Kornfeld angstvoll vor mich hin summend: Sollte ich das hier überleben, will ich Buße tun und das nächste Malle pauschal buchen, bei Polster und Pohl, mit Pool in einer Bettenburg samt Buffet. Die weiteste Wanderung sei einzig die zum Bierkönig. Versprochen!