Die Regierung hatte sich überlegt, wie man das Bahnfahren attraktiver machen könnte. Der biedere Bahnkunde denkt wahrscheinlich, durch mehr Pünktlichkeit oder ein dichteres Schienennetz, damit auch kleinere Ortschaften problemlos erreicht werden können. Wie langweilig! Außerdem würde das schon wieder viel mehr kosten als eine lustige Sommeraktion ohne Nachhaltigkeit. Und darum geht es doch. Den Sommer mit Menschen zu verbringen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Die Spaltung der Gesellschaft überwinden oder auch mal wieder einen guten alten Freund besuchen, für dessen Besuch man nicht mehr als 9 Euro auszugeben bereit ist. Ich habe die Gelegenheit gleich genutzt. Zehn Stunden Bahnfahrt lagen vor mir, mit etwas Glück sogar elf oder zwölf, schließlich habe ich noch einiges an Zugverspätungen nachzuholen, die ich in den letzten beiden Jahren der Pandemie gar nicht in Anspruch genommen hatte, und das für so wenig Geld. Auf Anraten meiner Mutter besorgte ich mir vorher ein paar Thrombosestrümpfe, damit das Reiseerlebnis nicht eingetrübt würde von einer Lungenembolie oder einem Schlaganfall. Auf den Bahnsteigen von Uelzen und Lüneburg überkam mich eine Ahnung von dem exotischen Flair von Großstädten wie Kalkutta oder Bombay. Es war atemberaubend. Überall dampfende Körper, dicht an dicht stehend, der Schweiß rann ihnen die Schläfen hinab. Man bekam wieder Kontakt zu seinen Mitmenschen - was wir ja alle in den Zeiten von Corona so schmerzlich vermißt haben. Neben der Beförderung gab es noch gratis zum Ticket dazu die ganze wilde Welt aus Gerüchen und Hautkontakten, für die früher der Besuch eines Swingerclubs nötig gewesen wäre. Nahverkehr im wahrsten Sinne des Wortes. Darüber hinaus werden die Menschen auch wieder kreativ. Ich beobachtete ein Pärchen, das, um die Maskenpflicht zu umgehen, jeweils ein Baguette einer nicht näher zu bezeichnenden Fastfoodkette vor sich hinlegte, und jedes Mal, wenn der Schaffner kam, simulierten sie Kaubewegungen und lächelten ihn fröhlich an. Da können Leute, die immer noch so verbissen ihre Maske tragen wie ich, nur staunen. Nach sechs Stunden intensiven Zugerlebnisses bekam ich fast einen Erstickungsanfall, mit Herzrasen und leichtem Schwindelgefühl. Um das zu erleben, hätte ich normalerweise einen überdosierten Joint rauchen müssen. Neben mir gequetscht stand einer, der es zumindest hingekriegt hatte, die Maske locker unter der Nase zu tragen. Eine Konfrontationstherapie für mich. Vor Wochen hätte ich noch rumgemeckert, jetzt halte ich es bereits klaglos aus. Inzwischen standen die Menschen so dicht, daß gar kein Schaffner mehr durchkam, um irgendwas zu kontrollieren. Wozu auch? Wer fährt schon schwarz, um 9 Euro zu sparen! Das machen nicht mal mehr die Punks.
Und wir bekamen die interessanten Verhältnisse einer sich angeregt austauschenden Großfamilie dargeboten, die maskenlos und mit dem vollen Repertoire ihrer Mimik und Stimmgewalt sich der Kindererziehung hingaben. Und wenn ich jetzt umklappte, fände sich in unserem Großraumabteil bestimmt ein entspannter Coronaleugner, der an mir Wiederbelebungsversuche samt Mund zu Mund Beatmung durchführen würde, weil er doch gar keine Angst davor hätte, sich bei mir anzustecken. Wenn ich das überlebte, müßte ich ihm natürlich dankbar sein. Vielleicht würden wir uns sogar anfreunden und Verständnis füreinander entwickeln, eine überraschende Wendung, fast wie in einem Roman von Juli Zeh. Mehrmals blieben wir auf offener Strecke stehen und konnten uns ganz in Ruhe die Landschaft anschauen. Das Gewerbegebiet rund um Magdeburg hat seinen ganz eigenen Charme. Und wir haben Zeit, beziehungsweise nehmen sie uns einfach. Nicht mehr dieses Hamsterrad von Termin zu Termin. Wie ich nämlich vom Zugbegleiter erfahren hatte, haben 9-Euro-Ticket Nutzer keinen Anspruch darauf, daß sie ihren Anschluß tatsächlich erreichen. Wenn man jedoch keinen Anspruch hat, muß man ihn auch nicht einfordern, was die Reise viel entspannter macht. Kein Stress. Wir sind die Vagabunden der Schiene, die einen Zipfel von dem ergreifen, was Ewigkeit auf der Zugfahrt von Hannover nach Nirgendwo bedeutet.
„Treten sie bitte aus dem Türbereich, damit der Zug weiterfahren kann“, gab ein etwas unlustiger Zugbegleiter nun zu verstehen, um die vielen Bahnenthusiasten, die sich im niedersächsischen Niemandsland aufgemacht hatten, um auch mal mit dem Metronom fünf Stunden lang in die nahe Umgebung zu reisen, aus der Ruhe zu bringen. Bleib mal locker, du Schneller. Die Deutsche Bahn ist doch kein D-Zug. Klar, es gab hin und wieder auch Meckerköppe, die das nächste Mal wieder mit dem Auto fahren wollten. Menschen, die es eilig hatten oder rechtzeitig zur Arbeit mussten. Typen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben will. Denn wer so unentspannt drauf ist, der sollte die Bahn grundsätzlich lieber nicht nutzen.