Neulich habe ich vom Quartiersmanagement Silberhöhe eine Anfrage erhalten, dort einen Schreibkurs zu leiten. Wäre den Menschen in der Silberhöhe nicht eher geholfen mit einem Selbstverteidigungskurs? Jede Stadt hat ein Problemviertel. Und Halle hat die Silberhöhe. Schenkt man den gesammelten Presseberichten der letzten dreißig Jahre Glauben, können es mit der Silberhöhe eigentlich nur noch die Bronx und die Banlieue von Paris aufnehmen. Es ist das letzte noch in der DDR fertiggestellte Neubaugebiet, ganz weit draußen im Süden, an der Peripherie, wo sich Fuchs und Hartzer Gute Nacht sagen. Und wenn man keine Drogen braucht oder ein blaues Auge, dann gibt es eigentlich auch keinen Grund für einen Hallenser, die Silberhöhe aufzusuchen. Außer natürlich, er hat das Pech dort zu wohnen. Während meiner Stadtschreiberzeit bin ich, um die mir zur Verfügung gestellte Monatskarte wenigstens einmal zu nutzen und weil ich in meinem Leben auch mal wieder etwas Abenteuerliches tun wollte, bis zur Endhaltestelle der Linie 3 gefahren. Die Straßenbahn landete in einem Endschleifenkreisel. Ich stieg aus und guckte mich um. Auf dem Boden der Haltestelle lag ein zerrissenes Wahlplakat der Grünen, die bei den kommenden Landtagswahlen in der Silberhöhe wahrscheinlich nicht die größten Erfolge feiern würden. Auf der einen Seite erhob sich das Massiv der Neubaublöcke, auf der anderen Seite sieht man die Kuppe einer kleinen Dorfkirche, um die sich ein paar Häuser gruppieren; das ist bereits Beesen. Ich stieg wieder in die Straßenbahn, schnell zurück nach Halle.
Falls ich Herrn Kienast, den Quartiersmanager, soweit richtig verstanden habe, soll es in dem Schreibkurs darum gehen, bevorzugt vor allem junge Menschen aus der Silberhöhe zu motivieren, an der Stadtteilzeitung mitzuschreiben, die vom Quartiermanagement herausgegeben wird. Nun bin ich zwar kein Journalist, allerdings habe ich mal eine Schülerzeitung in Halle-Neustadt betreut, und wenn man das überlebt hat, dann hat man bestimmt eine gute Vorbereitung für einen Schreibkurs in der Silberhöhe. Diesmal nehme ich nicht die Straßenbahn, sondern mein Fahrrad, stecke genug Proviant und Wasser ein, denn vierzig Minuten werde ich vom Paulusviertel, wo ich wohne, bis zur Silberhöhe mindestens brauchen. Kurz überlege ich noch, mein altes Klappmesser einzustecken, um mich notfalls gegen hungrige Rentner verteidigen zu können, die mit ihrer Minirente gerade so über die Runden kommen, auf der Silberhöhe, die übrigens so heißen soll, weil vor Jahrhunderten ein Räuber angeblich seine Beute dort vergraben hat. In den Zwanziger Jahren haben Mitglieder einer berüchtigten Bande von Kriminellen da draußen gehaust. Der Volksmund spricht manchmal von Silberhölle oder nennt diese Gegend gleich liebevoll Golanhöhe.
Dank Smartphone und Google Maps finde ich mich durch die Neubaublöcke hindurch zum Quartiersbüro. Herr Kienast steht vor der Tür und raucht eine Zigarette. Er und seine Getreuen vom Quartiersmanagement, das zur Arbeiterwohlfahrt gehört, haben es sich zur Aufgabe gemacht, dem negativen Bild, das in den Medien über die Silberhöhe verbreitet wird, etwas entgegenzusetzen. Herr Kienast mag Begriffe wie Teilhabe, Integration und Inklusion. Hier sollen Menschen motiviert werden, aktiv ihre Wirklichkeit zum Positiven zu verändern. Auch die Stadtteilzeitung soll mit positiven Inhalten dazu beitragen, die Silberhöhe von ihrem Negativimage zu befreien. Da muß es wie ein Rückschlag wirken, wenn der MDR genau einen Tag vor meiner Schreibwerkstatt wieder eine Reportage ausstrahlt, Titel: „Einmal Hartz4 - immer Hartz4? Leben in Halle Silberhöhe“.
„Das ist natürlich nicht hilfreich“, sagt Herr Kienast und auch Herr Epp, ebenfalls Quartiermanager, wiegt nachdenklich mit dem Kopf. Beide sind Anfang dreißig, und man merkt, daß sie noch nicht sehr lange in diesem Job sind. Sie haben noch Ideale, sie wollen was bewegen. Sie haben jedenfalls noch nicht aufgegeben.
Draußen, an der Wand des Blocks, in dem das Büro untergebracht ist, hängt ein Plakat, auf dem steht: „Zu Hause in der Waldstadt Silberhöhe“. Womit beglückt uns das Marketing dieser Welt als nächstes? Dem „Luftkurort Bitterfeld“. Dem „familienfreundlichen Naherholungsgebiet Gazastreifen“. Ein paar Bäume stehen zumindest schonmal in der „Waldstadt“ und manche Anwohner haben in einem Akt der gärtnerischen Übernahme kleine Areale vor den Blöcken zu einem Blumenbeet verschönert. Unweit des Quartierbüros, wo es ein Ärztezentrum gibt, einen vietnamesischen Klamottenladen, eine Dönerbude mit Getränkeverkauf und Leuten davor, die so aussehen, als haben sie alle in dieser MDR-Reportage mitgespielt, reißt fleißig ein kleiner Bagger ein Gebäude weg. Die höchsten, die Punkthochhäuser, sind längst verschwunden.
Herr Kienast hat Kaffee gekocht und stellt Kekse auf die Tische. Vier Personen haben sich für den Kurs angemeldet, meint er. Drei davon sind tatsächlich erschienen. Die drei wohnen allerdings nicht in der Silberhöhe, was wohl nicht ganz der Ausgangsidee von Herrn Kienast entspricht. Ich habe sie gleich erkannt. Sie kommen hin und wieder zu meinen Lesungen. Zwei ältere Frauen und ein Mann. Der Mann ist der Sohn der einen Frau, während die andere Frau seine Tante ist. Er hat mithilfe der beiden einen kleinen Verlag gegründet, der auf der Basis von Book on Demand Bücher verlegt von Menschen, die er auch sehr gut kennt, nämlich die Bücher seiner Mutter und seiner Tante. Das Verlagsbüro befindet sich in der Silberhöhe, vermutlich, weil die Mieten hier günstig sind. Verlagsstandort Silberhöhe, das wäre doch mal eine Schlagzeile, die man noch nicht gelesen hat. Er selbst hat auch schon ein Buch geschrieben, ein kleines Kinderbuch, das ist ebenfalls in seinem Verlag erschienen. Wir plaudern noch ein bißchen. Herr Kienast schaut auf die Uhr. Eigentlich sollte es jetzt losgehen mit der Werkstatt, aber dann öffnet sich die Tür. Zwei Polizisten. Ich wußte es doch. Silberhöhe, Brennpunktgebiet! Ein Polizist bleibt im Eingangsbereich stehen, der andere tritt durch die Glastür in den Seminarraum. Herr Kienast grüßt und der Polizist sagt, „lassen sie sich nicht stören“, und geht zu den Toiletten. Herr Kienast erklärt, „die kommen jede Woche auf ihrer Streife bei uns vorbei und treten dann bei uns mal aus.“ Das sind die praktischen Probleme der Polizeiarbeit hier in der Silberhöhe. Als Ordnungshüter kann man ja tatsächlich nicht einfach irgendwo hinpinkeln. Selbst in der Silberhöhe nicht.
Ich rede nun über die verschiedenen journalistischen Textformen, die man anwenden kann. Das ist für die Beteiligten nicht wirklich spannend, weshalb ich sie auffordere, ein Blatt Papier hervorzuholen, damit sie selbst etwas schreiben. Ich werde eine Schreibaufgabe geben, dafür wurde ich schließlich engagiert. Ich habe schon Schreibwerkstätten erlebt mit ADHS-verdächtigen Kindern und pubertären, kurz vor dem hormonellen Kontrollverlust befindlichen Jugendlichen, am schwierigsten sind aber, wie ich nun feststelle, Schreibwerkstätten mit Autoren. Insbesondere mit solchen, die bereits zwanzig Bücher im Verlag ihres Sohnes und Neffen veröffentlicht haben. Ein Umstand, den ich allerdings sehr gut nachvollziehen kann, denn ich würde selber nie an einer Schreibwerkstatt teilnehmen. Jedenfalls nicht an einer Schreibwerkstatt, in der von mir verlangt wird, unter den Augen von anderen Menschen zu einer Schreibaufgabe einen Text zu verfassen, den ich am Ende auch noch vorlesen muß. Dafür bin ich viel zu verkrampft. Freundlich signalisieren mir die drei, daß sie gleichfalls nicht gewillt sind, im Rahmen dieser Schreibwerkstatt auch nur ein Wort zu Papier zu bringen. Es soll ja auch kein Zwang sein, aber was machen wir jetzt in den restlichen 3 Stunden? Herr Kienast guckt auf die Uhr. Wir machen erstmal eine Pause.
Draußen zündet sich Herr Kienast eine Zigarette an. Er hat sich das irgendwie anders vorgestellt. Aber so sei das häufiger hier in der Silberhöhe. Man bietet was an, man bereitet was vor, und dann interessiert sich kaum jemand dafür. Staub weht herüber. Der Abrißbagger hat gerade wieder den Betrieb aufgenommen und rumpelt durch die Trümmer seiner Verwüstungen.
„Ich glaube, wir machen früher Schluß“, sagt Herr Kienast dann. Mir soll es recht sein. Ich verdiene mein Geld, um ehrlich zu sein, eigentlich am liebsten durch Nichtstun. Das klappt bloß nicht immer so gut. Wir verabschieden die drei Teilnehmer der Schreibwerkstatt. Auch Herr Kienast wird, wie ich erfahre, die Silberhöhe bald Richtung Innenstadt verlassen, er wohnt nämlich auch im Paulusviertel. Was mich zu der Überlegung führt, daß es die Silberhöhe wohl erst dann geschafft hat, als Wohngegend so attraktiv zu sein, wie man es sich erhofft, wenn der Quartiersmanager freiwillig in der Silberhöhe wohnt.
Diese gewagte These behalte ich aber lieber für mich.