Lesebühne Kreis mit Berg

Der Matte auf der Matte

Neulich habe ich mir eine Akkupressurmatte bestellt. Das ist so ein Teil, auf dem dicht an dicht runde Scheiben aus Hartplastik befestigt sind, mit lauter kleinen Spitzen dran. Ein schwedischer Masochist, der von Beruf Massagetherapeut ist, hat das entworfen, wohl in Anlehnung an das Nagelbrett der Fakire. Kurz darauf erhielt ich eine Begrüßungsmail von Nico von Shaktimat. Nico von Shaktimat ist kein Prinz aus dem Morgenland, wie man denken könnte, sondern eine Influencerin aus Berlin, die dafür zuständig ist, mir die Vorteile dieser leicht überteuerten Akkupressurmatte, der sogenannten Shaktimat, näherzubringen. Und bevor wir mit der Übung beginnen, möchte mir Nico von Shaktimat, wie sie in ihrem Erklärvideo mitteilt, dazu noch ein bißchen mehr „Background Knowledge geben“. Normalerweise sind in die Rede eingestreute englische Worte, um irgendwie weltgewandt und urban zu wirken, ein absolutes No go. Doch - so what! - hier mache ich mal eine Ausnahme, was natürlich nicht an ihrer attraktiven Figur in hautengen Yoga-Leggins liegt, sondern an der freundlichen und zugewandten Ansprache. Shakti, so erklärt es mir Nico von Shaktimat, während sie im Schneidersitz in die Kamera spricht, bedeutet in Sanskrit „weibliche Energie durch Mitgefühl, Kreativität und Fürsorge“. Wer wollte sich dem verschließen? Gerade jetzt liegt das ja voll im Trend. Die Matten werden auch von fröhlich lachenden indischen Frauen hergestellt. So zeigen es die Fotos auf der Internetseite. Kann natürlich auch sein, daß sie aus dem Lachen nicht mehr herauskommen, weil das Marketing von Shaktimat alles richtig gemacht hat und mir das Gefühl gibt, ein rundherum gutes Produkt erworben zu haben. Man kann sich aber auch mal unvoreingenommen auf etwas einlassen!
Einige werden sich jetzt vielleicht denken, Christian, irgendwas stimmt mit dir nicht. Hattest Du im Lockdown eine Erleuchtung oder einen unentdeckten Schlaganfall? Nein. Ich habe nur Rückenprobleme, Verspannungen und Tinnitus. Ganz normal für einen 44 Jahre alten Mann am Schreibtisch. Und manchmal fühle ich mich auch lustlos und matt. Doch schnell wurde mir die Matte gegen Mattheit und mangelnde Kreativität geliefert, so schnell wie ein weltweit operierendes Logistikunternehmen dazu in der Lage ist. Ich öffnete den Karton, ein optimistisches Orange strahlte mir entgegen. Autsch! Die Plastespitzen sind wirklich spitz. Die Matte ist mit insgesamt 6210 Spitzen besetzt. Wenn ich es schaffe, mich da zwanzig Minuten am Tag drauf zu legen, werden Endorphine und Oxytocine freigesetzt – die natürlichen Glückshormone meines Körpers, so verspricht es mir Nico von Shaktimat. Es gibt auch eine Anfängermatte mit 8280 Spitzen. Das Körpergewicht verteilt sich dann besser und die einzelnen Spitzen drücken weniger stark in die Haut. Ich würde sagen, das ist was für Weichfakire. Daneben gibt es aber auch noch eine Matte mit nur 4140 Spitzen, für die Rambos unter den Yogatanten.

Ich breite die Matte auf dem Boden aus. Man kann sich auch mit den Füßen draufstellen. Erstmal durchatmen. Meine Füße würden glücklich werden, wenn ich auf die Spitzen trete, verheißt mir Nico von Shaktimat. Es hat auch ein bißchen was von einer Tretfalle im vietnamesischen Dschungel, um den Feind lahmzulegen. Aber … aua, aua, aua … immerhin, eine Sekunde durchgehalten. Nichts ist so empfindlich wie Fußsohlen. Also, fast nichts. Und damit würde man der Matte lieber nicht zu nahe kommen. Ob es mein Rücken zumindest länger schafft? Er hat ja schon einiges mitmachen müssen. Bei der Bundeswehr einen Rucksack mit zehn Kilo. Jahrelanges verkrümmtes Sitzen am Bildschirm. Es gibt natürlich eine absurde Theorie, in der behauptet wird, gegen Rückprobleme helfe nur Bewegung. Ich habe das mal probiert, aber auf Dauer ist das nichts für mich. Manche benutzen in meiner Gegenwart sogar noch das S-Wort. In der Schule ist danach ein Fach benannt, das Menschen wie mich mit Hilfe von Noten beschämt. Das muß ich bei Nico von Shaktimat nicht befürchten. Sie zeigt genau, wie es geht. Man legt sich auf die Matte und dann - bleibt man liegen. Liegen - das habe ich schon öfter festgestellt - ist etwas, was ich relativ gut kann. Wenn bloß die vielen Spitzen nicht wären. Dann läge man recht problemlos auf dieser Matte. Es gibt allerdings einen Trick, den Nico von Shaktimat mir nun verrät. Nach 5 Minuten des Draufliegens, sagt sie, lasse der Schmerz nach. 5 Minuten können jedoch sehr lang sein, was jeder nachvollziehen kann, der regelmäßig mit seiner Mutter telefoniert. Ob die Shaktimat so endet wie mein Sitzball, der Kopfstandhocker, die Liegestützständer, der Bauchroller, das Liebscher-Bracht-Faszienenballset und das Wackelbrett mit rutschfestem Standfuß? Rücklings nähere ich mich langsam der Matte, es tänzeln kleine schwarze Punkte auf meiner Iris, denn die Spitzen bohren sich tief in die Haut, meine Rückenschmerzen spüre ich augenblicklich gar nicht mehr, weil das so weh tut. Das ist ja toll, denke ich, während meine katholische Freundin die Tür zu meinem Arbeitszimmer öffnet, um nachzusehen, warum ich so schreie. Nicht schlimm, bedeute ich ihr. A new Fakir is born, rufe ich.
Dann verliere ich vor Glück mein kritisches Bewußtsein.