Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr findet die sogenannte Jungsbescherung statt. Ein alter Brauch in der Zeit der Rauhnächte, mit viel Bier und ganz ohne Familie. Es soll der angenehme Teil des restlichen Jahres werden. Und normalerweise würden die Jungs – also Peter, Andreas, Steffen und ich, in die Kneipe gehen. Diesmal trafen wir uns coronabedingt im Hinterhofgarten. Vier Personen waren noch erlaubt. Aber aus vier Haushalten? Falls die Polizei nachfragt, könnten wir uns zumindest als zwei homosexuelle Pärchen ausgeben. Oder als ein polyamoröses Quartett. Von außen betrachtet war das gar nicht mal so abwegig. Jeder von uns schleppte einen Beutel mit schön eingewickelten Geschenken an, die er mit viel Liebe für die anderen ausgesucht hatte. Vom Amazongutschein bis zum Kalender mit Bibelsprüchen.
Unten im Garten kinsterte bereits herzerwärmend ein kleines Feuer. Daneben ein Kasten Bier. Der knisterte nicht, sondern hatte die Umgebungstemperatur von ca. 2 Grad Plus angenommen. Um genügend Holz zu haben, hatte ich ein paar alte Gartenstühle zersägt, die ganz besonders gut brannten, was sicher auch an der Lackschicht lag, die ein beschaulich grünschimmerndes Dioxinlicht in die Nacht warf.
Bevor es mit den Geschenken losging, wurde reihum berichtet, was wir an der familiären Bescherungsfront so durchgemacht hatten, frei nach Beuys: „Zeige mir deine Wunde“. Freilich, dieses Jahr konnten Eltern und Schwiegereltern nicht in gewohnter Weise besucht werden. Das war ja für alle nicht einfach gewesen. Wie sollte man die emotionalsten Tage des Jahres verbringen, ohne den traditionellen Familienstreit? Fast wäre man in die Situation geraten, die Zeit totzuschlagen mit Beschäftigungen, die einem tatsächlich Freude bereitet hätten. Doch zum Glück kam Abhilfe. Peters Schwester zum Beispiel hatte den rettenden Einfall, in diesem Jahr die Bescherung per Zoomkonferenz durchzuführen. Als sich Peter einklinkte, saßen bereits Mutter, Vater, Schwester und Schwager vor den Laptops und schauten ihn erwartungsfroh an. Peter sollte erzählen, wie es ihm geht. Und dann auch noch, was er denn gemacht hat die letzten Wochen. Eine Situation, die so angenehm ist wie ein Termin beim Jobcenter. Die ehrliche Antwort: „Nichts“, wäre auch in diesem Falle nicht ganz ausreichend gewesen.
Am meisten jedoch hatten dieses Weihnachten die Mütter zu leiden, die ihre Söhne nicht wie gewohnt mit Gänsekeulen, Hirschsalami, Weißwürsten, Nougathappen, Printen, Krokantkugeln, Stollen und nochmals Stollen mit Hirschhappen und Gänsekrokant an den Rand eines Darmverschlusses mästen konnten. Ich habe meinen Eltern deshalb auch per Mail einen Link geschickt, von Jitsi, damit Mutter wenigstens am Bildschirm sehen konnte, daß ich dank ihres Freßpakets nicht vollkommen vom Fleisch gefallen war. Sie mußte bloß auf den Link drücken und dann würde sie automatisch in der Konferenz landen. Ich sagte am Handy noch sowas wie, das Ganze sei idiotensicher.
„Mutter, hast du schon auf den Link gedrückt.“
„Ich drücke doch.“
„Und?“
„Nichts.“
„Na dann drück doch nochmal.“
„Ich drück doch.“
„Und?“
„Nichts.“
„Dann drück doch nochmal.“
„Ich drück doch.“
„Und?“
Vater aus dem Hintergrund: „Ich hab gleich gesagt, das funktioniert nicht.“
Andreas und Steffen wiederum haben mit ihren Eltern etwas getan, was man in diesen Zeiten kaum noch für möglich gehalten hätte, sie haben telefoniert, mit einem Festnetztelefon. Voll das 20. Jahrhundert.
Die Holzstühle hatten sich inzwischen in Rauch aufgelöst, der durch die Tiefdrucklage schwer und fett im Hof hing wie eine Gaswolke vor Verdun. Glücklicherweise war es Winter und die Leute hielten die Fenster geschlossen. „Nicht beim Nachbarn“, rief ich Steffen hinterher, der sich in die Dunkelheit schlug, noch schnell vor der Geschenkübergabe. „Ich muß auch nochmal,“ sagte Andreas, als Steffen zurückkam. Peter saß ebenfalls hibbelig herum. Als alle einmal durch waren, drückte mir Peter was Großes in die Hand. Es war das größte Geschenk von allen, ein Sitzkissen. Peter weiß, in meinem Alter ist es angenehm, wenn man weich sitzen kann und es unten herum schön warm ist. Das Kissen, so meinte Peter, habe er von einer Frau aus der Kirchengemeinde seiner Freundin. Den Bezug habe die Frau selber gemacht. Im Schein des Feuers erkannte ich nun, daß es wohl nicht einfach werden würde, in unserer Wohnung einen geeigneten Platz dafür zu finden. Der Bezug bestand aus lauter bunten Stoffmürmelchen. Er sah aus wie mundgeklöppelt. Das muß sehr zeitaufwendig gewesen sein. Auf dem freien Markt wäre sowas im Grunde unbezahlbar. Allerdings würde auf dem freien Markt auch niemand was dafür bezahlen. Der Anblick dieses Kissens ist geeignet, Vampire und Dämonen abzuwehren, zumindest wenn sie ein bißchen Geschmack haben. Aber ich will nicht meckern, wenn man darauf sitzt, fällt das gar nicht unangenehm auf. Hier, sagte Andreas, und schenkte mir wie immer ein Buch, das ich normalerweise nicht lesen würde. Dieses Jahr war es von Monika Maron. Im vergangenen Jahr eins von Henryk M. Broder. Ich bin gespannt, wann er mir endlich die neukommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ schenkt. Man muß sich schließlich auch mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzen. Und von Steffen bekam ich ein Buch über drei berühmte Dichterpaare. Mit dem interessanten Untertitel: „Laß uns Worte finden …“. Vielleicht eine Anregung für meine Freundin und mich. Wir sind ja auch ein Dichterpaar. Was hätte zum Beispiel Ingeborg Bachmann gesagt, wenn sie merkt, daß Paul Celan immer noch nicht den Geschirrspüler ausgeräumt hat?
Das zerknüllte Geschenkpapier landete direkt im Feuer und loderte im hellen Schein auf. Wir öffneten das vierte Bier, als sich auch noch der Mond blicken ließ. Nun war ich an der Reihe, meinen Freunden eine ebensolche Freude zu bereiten, und schenkte jedem das Buch eines Autors, den ich persönlich sehr zu schätzen weiß, für seinen Stil, seine gute Beobachtungsgabe und besonders für seinen Humor. Was lag also näher, als ihnen mein neuestes Buch zu schenken: das „Halle Alphabet“. Ich hätte ihnen kein schöneres Geschenk machen können.