Neulich rief ich meinen Vater an. Das heißt, eigentlich rief ich den Festnetzanschluß meiner Eltern an, um mit meiner Mutter zu telefonieren, die aber ausnahmsweise nicht da war, sodaß ich nun mit meinem Vater telefonieren mußte, was ich nur tue, wenn meine Mutter mal nicht da ist.
Solange das Leben halbwegs okay ist, rufen Vater und ich uns nicht an. Das letzte Mal, als mein Vater mich anrief, lag meine Mutter im Krankenhaus. Beim vorletzten Mal war die Oma gestorben. Wenn es also klingelt und ich höre die Stimme meines Vaters aus dem Lautsprecher des Telefons, dann weiß ich: Oha - Tod, Krankheit und Verderben stehen vor der Tür, die drei apokalyptischen Gründe eines väterlichen Anrufs.
Wenn wir uns, wie eben neulich, also eher aus Versehen anrufen, erzählt Vater immer von Tätigkeiten, die am Haus gemacht werden müssen. Oder von Handwerkern, die das, was am Haus gemacht werden muß, nicht ordentlich machen. Und wenn Handwerker etwas am Haus meines Vaters machen, ist es nie ordentlich. Vater erklärt ihnen, wie es richtig geht. Mein Vater ist nämlich für Gleichberechtigung und läßt Mansplaining nicht nur Frauen angedeihen, sondern auch Männern in Form von Heizungsinstallateuren, die den Kaminofen setzen sollten, aber weder das aus der Sicht meines Vaters erforderliche Material dabeihatten noch überhaupt Ahnung besaßen. Gut, daß mein Vater sie nochmal ausführlich über ihren Beruf aufklären konnte. Das erforderliche Material nannte er mir dann am Telefon auch präzise bis zur letzten Schamotschaumdübelkopfmutterverschlußabstandshalterarretierung, was, wenn ich vorgehabt hätte, selber mal einen Ofen zu setzen, durchaus hilfreich gewesen wäre, weil ich vom Handwerk nämlich Null Ahnung habe. Ein Umstand, den mein Vater jedoch erfolgreich verdrängt hat, um an der Tatsache, daß ich sein Sohn bin, nicht vollends zu resignieren. Und weil ich meinem Vater gegenüber empathisch zugewandt sein und bleiben möchte (vermutlich ein Zeichen dafür, daß ich mit 46 langsam erwachsen werde), versuche ich, soweit es mir möglich ist, mich auf ein solches Fachgespräch einzulassen. Hilfreich dabei ist, daß ich mir kürzlich zum Geburtstag von meinem Vater eine Bohrmaschine gewünscht habe. Die blaue Serie von Bosch. Eine Bohrmaschine, mit der man wie ein Profi arbeiten kann. Mein Vater hat sie mir trotzdem geschenkt. Nun kann ich ihm erzählen, wie ich damit ein Loch gebohrt habe. Ein seltener Moment eines wirklich innigen und persönlichen Austausches zwischen Vater und Sohn. Dann legten wir auf.
Am nächsten Tag rief meine Mutter bei mir an, weil ihr ja durch ihre gestrige Abwesenheit ein Telefonat mit mir leider entgangen war (Mütter sind Menschen, die an Telefongesprächen tatsächlich noch große Freude haben). Sie erzählte von ehemaligen Kolleginnen, von ihrer Jogastunde und nebenbei auch noch davon, daß mein Vater demnächst zum Urologen müsse, weil nämlich vorne an seinem Penis eine brennende Stelle sei, was er mir sicherlich gestern schon am Telefon berichtet habe.
Ich weiß nicht, welche Vorstellung meine Mutter darüber entwickelt hat, worüber ich mich normalerweise mit meinem Vater am Telefon unterhalte, definitiv sind es jedenfalls keine urologischen Gespräche. Generell spielen auch die sekundären Geschlechtsmerkmale bei unseren seltenen Telefonaten weder eine untergeordnete noch eine übergeordnete Rolle, sondern zum Glück überhaupt gar keine Rolle. Und das sagte ich nun auch meiner Mutter, die darüber sehr verwundert schien.
„Aber wieso? Ist doch nichts dabei“, meinte sie, in der Familie könne man über sowas ohne weiteres sprechen.
Keine Ahnung, in welchen Familien man über sowas spricht? Vielleicht in der Familie von Josef Fritzel. Ich habe jedenfalls bisher keinerlei Gesprächsbedürfnis in dieser Richtung empfunden. Und falls an einem fernen Tage, der hoffentlich nie eintreten möge, an meinem Penis irgendetwas brennen sollte, dann wäre mein Vater dafür, so leid es mir für die offene Gesprächskultur in unserer Familie tut, nicht unbedingt der erste Gesprächspartner.
Und meine Mutter – das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen - auch nicht. Das sagte ich ihr allerdings nicht so direkt, aber wozu schreibt man Kolumnen, wenn man damit nicht auch die eine oder andere subtile Botschaft einer Mutter mitteilen kann, die das hier natürlich mitliest.
Ich erinnere mich übrigens noch sehr gut an den Moment, als sie meinen Vater dazu anhielt, mir endlich – so von Mann zu Mann – zu erklären, wozu ein Penis – neben Herumbaumeln und arglosem Wasserlassen – eigentlich noch zu gebrauchen sei. Ich war circa Sechzehn, und über alles weitere habe ich dank der wunderbaren Leistung des Gehirns, etwas komplett zu vergessen, keinerlei Erinnerungen mehr.
„Wenn dein Vater und du über solche wichtigen persönlichen Dinge nicht sprecht, worüber habt ihr euch denn solange am Telefon unterhalten?“, fragte mich meine Mutter schließlich noch.
Und ich antwortete ihr: „Über Bohrmaschinen. Nur über unsere Bohrmaschinen!“, was, nach Sigmund Freud, einem urologischen Gespräch doch schon recht nahekommt.